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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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der Aufgaben für den Lernenden in gleichem Verhältniß mit der Menge des
im Lauf der Jahre und Jahrzehnte sich aufhäufenden wissenschaftlichen Arbeits¬
stoffs sich vermehre. Man trifft freilich auf solche Meinungen besonders in
nicht-wissenschaftlichen Kreisen nicht selten, und Anklänge an diese Meinungen
erklingen zuweilen wohl selbst aus den Reihen wissenschaftlicher Forscher.
Man fragt: wo steuern wir hinaus? Heutzutage arbeiten so viele thätig
an der Fortentwickelung der Wissenschaften mit, daß der zusammengehäufte
Stoff einer wissenschaftlichen Lehre schließlich von einem einzelnen Lernenden
gar nicht mehr bewältigt werden kann, oder daß er wenigstens für seine Auf¬
gabe eine drei- und vierfach größere Zeit gegen die früheren einfacheren Ver¬
hältnisse nöthig haben wird. So könnte man sich vorstellen, daß nach hundert
Jahren der Medizinstndirende schon zehn oder fünfzehn Jahre für sein Studium
nöthig haben würde; und damit würde die Nothwendigkeit einer Arbeitstheilung
auch für den Lernenden immer näher heranrücken. Aber ganz zutreffend ist
diese Vorstellung doch nur dann, wenn man sich den Werdegang der wissen¬
schaftlichen Forschung als ein einfaches Zusammenhäufen von Rohstoff zu einem
immer größeren Berg vorstellt, über welchen der Lernende immer mühsamer und
mühsamer und in immer längeren Zeiträumen, endlich aber gar nicht mehr
hinwegklettern könnte. Dann müßte man den großen Berg in einige kleinere
Hügel auseinander schaufeln und dürfte dem Lernenden nur noch zumuthen,
sich über den einen oder anderen Hügel hinaufzuhelfen. So aber steht es
nicht um die wissenschaftliche Forschung und wird es auch in Zukunft nicht
stehen. Niemals häufen die wissenschaftlichen Arbeiten einfach nur ungeordnete
Mengen von Rohstoff zusammen; vielmehr werden die Stoffe zu einem einheit¬
lichen Bau verwendet. Mag nnn auch der Bau lange Zeit in Breite und
Tiefe wachsen, so ist es doch denkbar, daß eine klare Form seiner einzelnen
Theile, ein einheitlicher Verlauf seiner Linien dem Fremden das Begreifen,
das Eindringen und das Fortbewegen, so weit der Bau vollendet ist, mehr
erleichtere, als erschwere. Ich darf wenigstens für die wissenschaftliche Medizin
Meine Ueberzeugung aussprechen, daß das Erlernen derselben vor zwanzig
wahren nicht leichter gewesen ist, als heute. In den verflossenen Jahrzehnten
ist an dem Bau der medizinischen Wissenschaft mit bedeutenden Kräften gear¬
beitet worden; aber man hat deshalb nicht einen babylonischen Thurm zu
bauen versucht. Man hat sich begnügt, den Rohstoff, auch den Rohstoff einer
früheren Zeit, wirksam zu gestalten und man hat mehr auf eine gute Grund¬
lage des Baues und auf Klärung seiner einzelnen Theile hingearbeitet, als auf
eine maßlose Ausdehnung in Breite und Höhe. (Schluß folgt.)




der Aufgaben für den Lernenden in gleichem Verhältniß mit der Menge des
im Lauf der Jahre und Jahrzehnte sich aufhäufenden wissenschaftlichen Arbeits¬
stoffs sich vermehre. Man trifft freilich auf solche Meinungen besonders in
nicht-wissenschaftlichen Kreisen nicht selten, und Anklänge an diese Meinungen
erklingen zuweilen wohl selbst aus den Reihen wissenschaftlicher Forscher.
Man fragt: wo steuern wir hinaus? Heutzutage arbeiten so viele thätig
an der Fortentwickelung der Wissenschaften mit, daß der zusammengehäufte
Stoff einer wissenschaftlichen Lehre schließlich von einem einzelnen Lernenden
gar nicht mehr bewältigt werden kann, oder daß er wenigstens für seine Auf¬
gabe eine drei- und vierfach größere Zeit gegen die früheren einfacheren Ver¬
hältnisse nöthig haben wird. So könnte man sich vorstellen, daß nach hundert
Jahren der Medizinstndirende schon zehn oder fünfzehn Jahre für sein Studium
nöthig haben würde; und damit würde die Nothwendigkeit einer Arbeitstheilung
auch für den Lernenden immer näher heranrücken. Aber ganz zutreffend ist
diese Vorstellung doch nur dann, wenn man sich den Werdegang der wissen¬
schaftlichen Forschung als ein einfaches Zusammenhäufen von Rohstoff zu einem
immer größeren Berg vorstellt, über welchen der Lernende immer mühsamer und
mühsamer und in immer längeren Zeiträumen, endlich aber gar nicht mehr
hinwegklettern könnte. Dann müßte man den großen Berg in einige kleinere
Hügel auseinander schaufeln und dürfte dem Lernenden nur noch zumuthen,
sich über den einen oder anderen Hügel hinaufzuhelfen. So aber steht es
nicht um die wissenschaftliche Forschung und wird es auch in Zukunft nicht
stehen. Niemals häufen die wissenschaftlichen Arbeiten einfach nur ungeordnete
Mengen von Rohstoff zusammen; vielmehr werden die Stoffe zu einem einheit¬
lichen Bau verwendet. Mag nnn auch der Bau lange Zeit in Breite und
Tiefe wachsen, so ist es doch denkbar, daß eine klare Form seiner einzelnen
Theile, ein einheitlicher Verlauf seiner Linien dem Fremden das Begreifen,
das Eindringen und das Fortbewegen, so weit der Bau vollendet ist, mehr
erleichtere, als erschwere. Ich darf wenigstens für die wissenschaftliche Medizin
Meine Ueberzeugung aussprechen, daß das Erlernen derselben vor zwanzig
wahren nicht leichter gewesen ist, als heute. In den verflossenen Jahrzehnten
ist an dem Bau der medizinischen Wissenschaft mit bedeutenden Kräften gear¬
beitet worden; aber man hat deshalb nicht einen babylonischen Thurm zu
bauen versucht. Man hat sich begnügt, den Rohstoff, auch den Rohstoff einer
früheren Zeit, wirksam zu gestalten und man hat mehr auf eine gute Grund¬
lage des Baues und auf Klärung seiner einzelnen Theile hingearbeitet, als auf
eine maßlose Ausdehnung in Breite und Höhe. (Schluß folgt.)




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[0203] der Aufgaben für den Lernenden in gleichem Verhältniß mit der Menge des im Lauf der Jahre und Jahrzehnte sich aufhäufenden wissenschaftlichen Arbeits¬ stoffs sich vermehre. Man trifft freilich auf solche Meinungen besonders in nicht-wissenschaftlichen Kreisen nicht selten, und Anklänge an diese Meinungen erklingen zuweilen wohl selbst aus den Reihen wissenschaftlicher Forscher. Man fragt: wo steuern wir hinaus? Heutzutage arbeiten so viele thätig an der Fortentwickelung der Wissenschaften mit, daß der zusammengehäufte Stoff einer wissenschaftlichen Lehre schließlich von einem einzelnen Lernenden gar nicht mehr bewältigt werden kann, oder daß er wenigstens für seine Auf¬ gabe eine drei- und vierfach größere Zeit gegen die früheren einfacheren Ver¬ hältnisse nöthig haben wird. So könnte man sich vorstellen, daß nach hundert Jahren der Medizinstndirende schon zehn oder fünfzehn Jahre für sein Studium nöthig haben würde; und damit würde die Nothwendigkeit einer Arbeitstheilung auch für den Lernenden immer näher heranrücken. Aber ganz zutreffend ist diese Vorstellung doch nur dann, wenn man sich den Werdegang der wissen¬ schaftlichen Forschung als ein einfaches Zusammenhäufen von Rohstoff zu einem immer größeren Berg vorstellt, über welchen der Lernende immer mühsamer und mühsamer und in immer längeren Zeiträumen, endlich aber gar nicht mehr hinwegklettern könnte. Dann müßte man den großen Berg in einige kleinere Hügel auseinander schaufeln und dürfte dem Lernenden nur noch zumuthen, sich über den einen oder anderen Hügel hinaufzuhelfen. So aber steht es nicht um die wissenschaftliche Forschung und wird es auch in Zukunft nicht stehen. Niemals häufen die wissenschaftlichen Arbeiten einfach nur ungeordnete Mengen von Rohstoff zusammen; vielmehr werden die Stoffe zu einem einheit¬ lichen Bau verwendet. Mag nnn auch der Bau lange Zeit in Breite und Tiefe wachsen, so ist es doch denkbar, daß eine klare Form seiner einzelnen Theile, ein einheitlicher Verlauf seiner Linien dem Fremden das Begreifen, das Eindringen und das Fortbewegen, so weit der Bau vollendet ist, mehr erleichtere, als erschwere. Ich darf wenigstens für die wissenschaftliche Medizin Meine Ueberzeugung aussprechen, daß das Erlernen derselben vor zwanzig wahren nicht leichter gewesen ist, als heute. In den verflossenen Jahrzehnten ist an dem Bau der medizinischen Wissenschaft mit bedeutenden Kräften gear¬ beitet worden; aber man hat deshalb nicht einen babylonischen Thurm zu bauen versucht. Man hat sich begnügt, den Rohstoff, auch den Rohstoff einer früheren Zeit, wirksam zu gestalten und man hat mehr auf eine gute Grund¬ lage des Baues und auf Klärung seiner einzelnen Theile hingearbeitet, als auf eine maßlose Ausdehnung in Breite und Höhe. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/203>, abgerufen am 18.05.2024.