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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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lnsel lernen können; denn vorausgesetzt, daß den Russen das Kriegsglück sich,
nachdem sie genügend verstärkt worden, wieder zuwendet, können sie in wenigen
Wochen in Adrianopel sein, und wie es scheint, ist die Stellung, welche die
unbetheiligten Mächte den Kämpfenden gegenüber einnehmen, praktisch im we¬
sentlichen dieselbe wie damals.

Nach der Einnahme von Adrianopel (10 August 1829) hatten die Russen
eine sehr starke militärische Position inne. Ihr linker Flügel stützte sich auf
das schwarze, ihr rechter ans das ägäische Meer, und das Centrum in
Adrianopel war uach Constantinopel hin durch die Plätze Kirkilissa und
Tchatal- Burgas gedeckt. Silistria war gefallen, Schumla umgangen worden.
Allerdings hielten sich außer der letzteren Festung noch Widdin, Nikopolis,
Sistowa, Rustschuk und Giurgewo, bei Sofia standen 30,000 Arnauten, bei
Konstantinopel kounte man die dort stehenden Truppen durch Aushebung aller
Waffenfähigen unter den Muhamedanern der Stadt auf 40,000 Mann bringen,
und der russische Oberfeldherr hatte in Folge der furchtbaren Decimirung seines
Heeres durch Ruhr und Fieber kaum noch 20,000 Mann zum Marsch auf
Konstantinopel zur Verfügung, welches sich vermöge seiner Lage am Ende
einer von unwirthlichen Bergen durchzogenen, von Sümpfen und Seen unter¬
brochenen Landzunge leicht vertheidigen ließ. Dennoch würde Diebitsch sich
von jenem Weitermarsch, wenn die Pforte sich nicht gefügt hätte, nicht haben
abhalten lassen. Die Türken waren völlig demoralisirt, mit Gewalt mußten
die auatolischen Rekruten herbeigeschleppt werden, Desertionen waren an der
Tagesordnung, und das Chürka-i-Scheriff, die Fahne des Propheten, welche der
Sultan Mahmud feierlich in sein Lager bei Kalender Kioschk hatte hinaus¬
tragen lassen, erregte nicht die mindeste Begeisterung mehr. Dazu kam, daß
der Divan mit dem Zustande des russischen Heeres in Rumelien unbekannt war
und dasselbe noch für 50,000 Mann stark hielt, und daß er einen Aufstand
in der Hauptstadt fürchtete. Seit der Vernichtung der Janitscharen und den
Reformen, die ihr gefolgt waren, wartete dort eine mächtige reaktionäre Partei
nur ans den günstigen Augenblick, um die Fahne der Empörung aufzupflanzen,
und der bis dahin für unmöglich gehaltene Uebergang der Russen über den
Balkan brachte diese Stimmung dein Ausbruch nahe. Der Sultan schritt zwar
mit Hinrichtungen gegen die Verschwörer ein, aber die Unzufriedenheit war
damit uicht gehoben.

Diese Umstände lassen kaum bezweifeln, daß ein Versuch Diebitsch's, Kon¬
stantinopel einzunehmen, geglückt sein würde. Aber was weiter? mußte sich
dann das Petersburger Kabinet fragen. Zurückgeben oder behalten? Wie sollte
man die Rückgabe der Aja Sofia an die Ungläubigen vor dem russischen Volke
entschuldigen, und wie sollte man sie gegen den Willen Oesterreichs und der


Grnizboten NI. 1877. 45

lnsel lernen können; denn vorausgesetzt, daß den Russen das Kriegsglück sich,
nachdem sie genügend verstärkt worden, wieder zuwendet, können sie in wenigen
Wochen in Adrianopel sein, und wie es scheint, ist die Stellung, welche die
unbetheiligten Mächte den Kämpfenden gegenüber einnehmen, praktisch im we¬
sentlichen dieselbe wie damals.

Nach der Einnahme von Adrianopel (10 August 1829) hatten die Russen
eine sehr starke militärische Position inne. Ihr linker Flügel stützte sich auf
das schwarze, ihr rechter ans das ägäische Meer, und das Centrum in
Adrianopel war uach Constantinopel hin durch die Plätze Kirkilissa und
Tchatal- Burgas gedeckt. Silistria war gefallen, Schumla umgangen worden.
Allerdings hielten sich außer der letzteren Festung noch Widdin, Nikopolis,
Sistowa, Rustschuk und Giurgewo, bei Sofia standen 30,000 Arnauten, bei
Konstantinopel kounte man die dort stehenden Truppen durch Aushebung aller
Waffenfähigen unter den Muhamedanern der Stadt auf 40,000 Mann bringen,
und der russische Oberfeldherr hatte in Folge der furchtbaren Decimirung seines
Heeres durch Ruhr und Fieber kaum noch 20,000 Mann zum Marsch auf
Konstantinopel zur Verfügung, welches sich vermöge seiner Lage am Ende
einer von unwirthlichen Bergen durchzogenen, von Sümpfen und Seen unter¬
brochenen Landzunge leicht vertheidigen ließ. Dennoch würde Diebitsch sich
von jenem Weitermarsch, wenn die Pforte sich nicht gefügt hätte, nicht haben
abhalten lassen. Die Türken waren völlig demoralisirt, mit Gewalt mußten
die auatolischen Rekruten herbeigeschleppt werden, Desertionen waren an der
Tagesordnung, und das Chürka-i-Scheriff, die Fahne des Propheten, welche der
Sultan Mahmud feierlich in sein Lager bei Kalender Kioschk hatte hinaus¬
tragen lassen, erregte nicht die mindeste Begeisterung mehr. Dazu kam, daß
der Divan mit dem Zustande des russischen Heeres in Rumelien unbekannt war
und dasselbe noch für 50,000 Mann stark hielt, und daß er einen Aufstand
in der Hauptstadt fürchtete. Seit der Vernichtung der Janitscharen und den
Reformen, die ihr gefolgt waren, wartete dort eine mächtige reaktionäre Partei
nur ans den günstigen Augenblick, um die Fahne der Empörung aufzupflanzen,
und der bis dahin für unmöglich gehaltene Uebergang der Russen über den
Balkan brachte diese Stimmung dein Ausbruch nahe. Der Sultan schritt zwar
mit Hinrichtungen gegen die Verschwörer ein, aber die Unzufriedenheit war
damit uicht gehoben.

Diese Umstände lassen kaum bezweifeln, daß ein Versuch Diebitsch's, Kon¬
stantinopel einzunehmen, geglückt sein würde. Aber was weiter? mußte sich
dann das Petersburger Kabinet fragen. Zurückgeben oder behalten? Wie sollte
man die Rückgabe der Aja Sofia an die Ungläubigen vor dem russischen Volke
entschuldigen, und wie sollte man sie gegen den Willen Oesterreichs und der


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[0361] lnsel lernen können; denn vorausgesetzt, daß den Russen das Kriegsglück sich, nachdem sie genügend verstärkt worden, wieder zuwendet, können sie in wenigen Wochen in Adrianopel sein, und wie es scheint, ist die Stellung, welche die unbetheiligten Mächte den Kämpfenden gegenüber einnehmen, praktisch im we¬ sentlichen dieselbe wie damals. Nach der Einnahme von Adrianopel (10 August 1829) hatten die Russen eine sehr starke militärische Position inne. Ihr linker Flügel stützte sich auf das schwarze, ihr rechter ans das ägäische Meer, und das Centrum in Adrianopel war uach Constantinopel hin durch die Plätze Kirkilissa und Tchatal- Burgas gedeckt. Silistria war gefallen, Schumla umgangen worden. Allerdings hielten sich außer der letzteren Festung noch Widdin, Nikopolis, Sistowa, Rustschuk und Giurgewo, bei Sofia standen 30,000 Arnauten, bei Konstantinopel kounte man die dort stehenden Truppen durch Aushebung aller Waffenfähigen unter den Muhamedanern der Stadt auf 40,000 Mann bringen, und der russische Oberfeldherr hatte in Folge der furchtbaren Decimirung seines Heeres durch Ruhr und Fieber kaum noch 20,000 Mann zum Marsch auf Konstantinopel zur Verfügung, welches sich vermöge seiner Lage am Ende einer von unwirthlichen Bergen durchzogenen, von Sümpfen und Seen unter¬ brochenen Landzunge leicht vertheidigen ließ. Dennoch würde Diebitsch sich von jenem Weitermarsch, wenn die Pforte sich nicht gefügt hätte, nicht haben abhalten lassen. Die Türken waren völlig demoralisirt, mit Gewalt mußten die auatolischen Rekruten herbeigeschleppt werden, Desertionen waren an der Tagesordnung, und das Chürka-i-Scheriff, die Fahne des Propheten, welche der Sultan Mahmud feierlich in sein Lager bei Kalender Kioschk hatte hinaus¬ tragen lassen, erregte nicht die mindeste Begeisterung mehr. Dazu kam, daß der Divan mit dem Zustande des russischen Heeres in Rumelien unbekannt war und dasselbe noch für 50,000 Mann stark hielt, und daß er einen Aufstand in der Hauptstadt fürchtete. Seit der Vernichtung der Janitscharen und den Reformen, die ihr gefolgt waren, wartete dort eine mächtige reaktionäre Partei nur ans den günstigen Augenblick, um die Fahne der Empörung aufzupflanzen, und der bis dahin für unmöglich gehaltene Uebergang der Russen über den Balkan brachte diese Stimmung dein Ausbruch nahe. Der Sultan schritt zwar mit Hinrichtungen gegen die Verschwörer ein, aber die Unzufriedenheit war damit uicht gehoben. Diese Umstände lassen kaum bezweifeln, daß ein Versuch Diebitsch's, Kon¬ stantinopel einzunehmen, geglückt sein würde. Aber was weiter? mußte sich dann das Petersburger Kabinet fragen. Zurückgeben oder behalten? Wie sollte man die Rückgabe der Aja Sofia an die Ungläubigen vor dem russischen Volke entschuldigen, und wie sollte man sie gegen den Willen Oesterreichs und der Grnizboten NI. 1877. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/361>, abgerufen am 17.05.2024.