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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Weiteres umstürzen, ob man ihn auch mit Held "thöricht" nennt. Wenn
Wagner auf die Frage: "Was ist Sozialismus?" seinerseits antwortet: "Ein
dem heutigen entgegengesetztes System der wirthschaftlichen Rechtsordnung, wo
die sachlichen Produktionsmittel, d. h. Grund und Boden und Kapital nicht
im Privateigenthum einzelner privater Mitglieder der Gesellschaft, sondern im
öffentlichen oder Gefammteigenthum der Gesellschaft sich befinden", so ist diese
Definition zwar viel zu eng, denn sie umfaßt nur den kommunistischen
Sozialismus von Marx, aber sie trifft jedenfalls viel schärfer die politisch,
publizistisch und auch wissenschaftlich übliche Auffassung des Begriffes, wie
Held's allgemeine Umschreibung. Einem gefährlicheren und verhängnisvolleren
Irrthum giebt letzterer sich dann weiter hin, wenn er in der deutschen Sozial¬
demokratie die wirthschaftliche Utopie und das politische Umstürzlerthum unter¬
scheidet, in der ersten die harmlose, in der zweiten die gefährliche Seite der
Bewegung erblickt. Das ist grundfalsch. Wie wenig Halt politisch revolutionäre
Bewegungen auf deutscher Erde haben, zeigen die verkümmerten und immer
mehr verkümmernder Ansätze republikanischer Parteibildungen; das Gleißende,
Lockende, Werdende der sozialdemokratischen Agitation ist durchaus und durchweg
das wirthschaftliche Demagogenthum. Held sucht zwar in geistvoller Weise zu
entwickeln, wie die extremen Auswüchse, die jugendlichen Verirrungen des
vormärzlichen Liberalismus heute noch in unserm öffentlichen Leben rumoren,
aber ihr klassischer und prägnanter Niederschlag ist etwa der Berliner Fortschritt
und die süddeutsche Volkspartei; bei der Sozialdemokratie kommen sie wohl in
Betracht, aber nur als nebensächliches, nicht als entscheidendes Moment.

Diese Auseinandersetzung zwischen Held und Wagner, wenngleich sie
weniger Bahn brach, als vielmehr nur thatsächliche Entwickelungen besiegelte
und verbriefte, hat dem "Verein für Sozialpolitik" seine Zukunftsbahncn
endgiltig angewiesen, hat namentlich anch aus den Reihen der liberalen und
nationalen Parteien in Deutschland die sozialistische Velleität zu Gunsten der
sozialen Reform verdrängen helfen. Und es ist nun überaus charakteristisch
zu sehen, wie der linke Flügel der Kathedersvzialisten, sobald er den Vereins¬
boden unter den Füßen verlor, in einem Noth- und Bergehafen schwamm, in
welchem alle Parteitrümmer durch einander wirbeln, die mit der deutschen
Entwickelung des letzten Jahrzehnts gleichviel aus welchen Gründen unzufrieden
sind. Der konservative Sozialismus, welcher Lassalle gehätschelt hatte, trat
naturgemäß zurück, als der vornehmlich aus liberalen Kreisen sich rekrutirende
Kathedersozialismus auftauchte; Rvdbertus, Wagener und ihr talentvoller Schüler
Rudolf Meyer versuchten zwar ".gelegentlich, auf den Eisenacher Kongressen
festen Fuß zu fassen, allein es gelang ihnen vorerst nicht, und als in Folge
der inneren Spaltungen des "Vereins für Sozialpolitik" der Boden vielleicht


Weiteres umstürzen, ob man ihn auch mit Held „thöricht" nennt. Wenn
Wagner auf die Frage: „Was ist Sozialismus?" seinerseits antwortet: „Ein
dem heutigen entgegengesetztes System der wirthschaftlichen Rechtsordnung, wo
die sachlichen Produktionsmittel, d. h. Grund und Boden und Kapital nicht
im Privateigenthum einzelner privater Mitglieder der Gesellschaft, sondern im
öffentlichen oder Gefammteigenthum der Gesellschaft sich befinden", so ist diese
Definition zwar viel zu eng, denn sie umfaßt nur den kommunistischen
Sozialismus von Marx, aber sie trifft jedenfalls viel schärfer die politisch,
publizistisch und auch wissenschaftlich übliche Auffassung des Begriffes, wie
Held's allgemeine Umschreibung. Einem gefährlicheren und verhängnisvolleren
Irrthum giebt letzterer sich dann weiter hin, wenn er in der deutschen Sozial¬
demokratie die wirthschaftliche Utopie und das politische Umstürzlerthum unter¬
scheidet, in der ersten die harmlose, in der zweiten die gefährliche Seite der
Bewegung erblickt. Das ist grundfalsch. Wie wenig Halt politisch revolutionäre
Bewegungen auf deutscher Erde haben, zeigen die verkümmerten und immer
mehr verkümmernder Ansätze republikanischer Parteibildungen; das Gleißende,
Lockende, Werdende der sozialdemokratischen Agitation ist durchaus und durchweg
das wirthschaftliche Demagogenthum. Held sucht zwar in geistvoller Weise zu
entwickeln, wie die extremen Auswüchse, die jugendlichen Verirrungen des
vormärzlichen Liberalismus heute noch in unserm öffentlichen Leben rumoren,
aber ihr klassischer und prägnanter Niederschlag ist etwa der Berliner Fortschritt
und die süddeutsche Volkspartei; bei der Sozialdemokratie kommen sie wohl in
Betracht, aber nur als nebensächliches, nicht als entscheidendes Moment.

Diese Auseinandersetzung zwischen Held und Wagner, wenngleich sie
weniger Bahn brach, als vielmehr nur thatsächliche Entwickelungen besiegelte
und verbriefte, hat dem „Verein für Sozialpolitik" seine Zukunftsbahncn
endgiltig angewiesen, hat namentlich anch aus den Reihen der liberalen und
nationalen Parteien in Deutschland die sozialistische Velleität zu Gunsten der
sozialen Reform verdrängen helfen. Und es ist nun überaus charakteristisch
zu sehen, wie der linke Flügel der Kathedersvzialisten, sobald er den Vereins¬
boden unter den Füßen verlor, in einem Noth- und Bergehafen schwamm, in
welchem alle Parteitrümmer durch einander wirbeln, die mit der deutschen
Entwickelung des letzten Jahrzehnts gleichviel aus welchen Gründen unzufrieden
sind. Der konservative Sozialismus, welcher Lassalle gehätschelt hatte, trat
naturgemäß zurück, als der vornehmlich aus liberalen Kreisen sich rekrutirende
Kathedersozialismus auftauchte; Rvdbertus, Wagener und ihr talentvoller Schüler
Rudolf Meyer versuchten zwar «.gelegentlich, auf den Eisenacher Kongressen
festen Fuß zu fassen, allein es gelang ihnen vorerst nicht, und als in Folge
der inneren Spaltungen des „Vereins für Sozialpolitik" der Boden vielleicht


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[0186] Weiteres umstürzen, ob man ihn auch mit Held „thöricht" nennt. Wenn Wagner auf die Frage: „Was ist Sozialismus?" seinerseits antwortet: „Ein dem heutigen entgegengesetztes System der wirthschaftlichen Rechtsordnung, wo die sachlichen Produktionsmittel, d. h. Grund und Boden und Kapital nicht im Privateigenthum einzelner privater Mitglieder der Gesellschaft, sondern im öffentlichen oder Gefammteigenthum der Gesellschaft sich befinden", so ist diese Definition zwar viel zu eng, denn sie umfaßt nur den kommunistischen Sozialismus von Marx, aber sie trifft jedenfalls viel schärfer die politisch, publizistisch und auch wissenschaftlich übliche Auffassung des Begriffes, wie Held's allgemeine Umschreibung. Einem gefährlicheren und verhängnisvolleren Irrthum giebt letzterer sich dann weiter hin, wenn er in der deutschen Sozial¬ demokratie die wirthschaftliche Utopie und das politische Umstürzlerthum unter¬ scheidet, in der ersten die harmlose, in der zweiten die gefährliche Seite der Bewegung erblickt. Das ist grundfalsch. Wie wenig Halt politisch revolutionäre Bewegungen auf deutscher Erde haben, zeigen die verkümmerten und immer mehr verkümmernder Ansätze republikanischer Parteibildungen; das Gleißende, Lockende, Werdende der sozialdemokratischen Agitation ist durchaus und durchweg das wirthschaftliche Demagogenthum. Held sucht zwar in geistvoller Weise zu entwickeln, wie die extremen Auswüchse, die jugendlichen Verirrungen des vormärzlichen Liberalismus heute noch in unserm öffentlichen Leben rumoren, aber ihr klassischer und prägnanter Niederschlag ist etwa der Berliner Fortschritt und die süddeutsche Volkspartei; bei der Sozialdemokratie kommen sie wohl in Betracht, aber nur als nebensächliches, nicht als entscheidendes Moment. Diese Auseinandersetzung zwischen Held und Wagner, wenngleich sie weniger Bahn brach, als vielmehr nur thatsächliche Entwickelungen besiegelte und verbriefte, hat dem „Verein für Sozialpolitik" seine Zukunftsbahncn endgiltig angewiesen, hat namentlich anch aus den Reihen der liberalen und nationalen Parteien in Deutschland die sozialistische Velleität zu Gunsten der sozialen Reform verdrängen helfen. Und es ist nun überaus charakteristisch zu sehen, wie der linke Flügel der Kathedersvzialisten, sobald er den Vereins¬ boden unter den Füßen verlor, in einem Noth- und Bergehafen schwamm, in welchem alle Parteitrümmer durch einander wirbeln, die mit der deutschen Entwickelung des letzten Jahrzehnts gleichviel aus welchen Gründen unzufrieden sind. Der konservative Sozialismus, welcher Lassalle gehätschelt hatte, trat naturgemäß zurück, als der vornehmlich aus liberalen Kreisen sich rekrutirende Kathedersozialismus auftauchte; Rvdbertus, Wagener und ihr talentvoller Schüler Rudolf Meyer versuchten zwar «.gelegentlich, auf den Eisenacher Kongressen festen Fuß zu fassen, allein es gelang ihnen vorerst nicht, und als in Folge der inneren Spaltungen des „Vereins für Sozialpolitik" der Boden vielleicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/186>, abgerufen am 29.05.2024.