Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ihnen, wenn Sie wieder geistiges Futter für die Sommerfrische brauchen, und
streiche Ihnen dann umgekehrt alle "Brillanten" von Ihrem Wunschzettel weg.

Bibliothekaren sagt man nicht selten ähnliche böse Dinge nach, wie den
Postbeamten am Schalter: sie seien wortkarg, kurz angebunden -- grob. Ich
habe Ihnen das gleich damals als schnöde Verleumdung bezeichnet. Wenn
das Publikum, das auf Bibliotheken verkehrt, denselben Untugenden fröhnt,
wie das Publikum am Postschalter, dann mag wohl bisweilen eine gewisse
Aehnlichkeit zwischen den hier und dort expedirenden Beamten zu bemerken sein.
Und solche Untugenden giebt es in der That. Wenn eine Bibliothek vier Stunden
lang geöffnet ist, so kann man sicher sein, daß in der vierten Stunde sich eben
so viele Besucher einstellen, wie in den drei vorhergehenden zusammen, und
wieder in der letzten Viertelstunde so viel, wie in den vorhergeheuden drei Viertel¬
stunden zusammen, und wenn die vier Stunden glücklich um sind, so kann mau
eben so sicher sein, daß nach Thorschluß noch zwei oder drei Nachzügler
kommen, der eine mit größter Unverfrorenheit dahertretend, als ob er ganz
in seinem Rechte wäre, der zweite verlegen die Uhr ziehend und fragend: "Die
Zeit ist wohl eigentlich schon um?" oder: "Es ist wohl eigentlich schon ge¬
schlossen?", der dritte athemlos keuchend und Entschuldigungen stammelnd; und
diese Nachzügler sind immer dieselben Leute, die nicht etwa Amt oder Beruf
verhindert, zur rechten Zeit zu kommen, sondern die eben, sie wissen selbst nicht
warum, überall: im Theater, im Konzert, in Gesellschaft und folglich auch hier
auf der Bibliothek zu spät kommen. Wenn in solchen Viertelstunden und
gegenüber solchen Gästen den Bibliothekar seine eingeborne Liebenswürdigkeit
einmal im Stiche ließe, wäre es ein Wunder?

Aber auch in anderen Stücken hat das Publikum am Schalter mit dem
aus Bibliotheken manche Aehnlichkeit, z. B. darin, daß es oft recht ungenügend
über die "einschlagenden" Pflichten orientirt ist. Eine bekannte Wahrnehmung
ist die, daß alles, was den Menschen umsonst geboten wird, keinen Werth
für sie repräsentirt. Das gilt vor allein von den Büchern. Ein Buch, das
für jemanden einen unerschwinglichen Werth Hütte, wenn er sich's kaufen müßte,
sinkt für ihn sofort zu einem völlig werthlosen Objekte herab, wenn er's ge¬
liehen bekommen kann, und -- wird demgemäß behandelt. Diese Auffassung
der Dinge tritt gleich bei der ersten Maßregel hervor, die derjenige ergreifen
muß, der zum ersten Male eine öffentliche Bibliothek benutzen will. Es ist Sitte,
daß Personen, die an der Bibliothek unbekannt sind, von der einen oder anderen
dort akkreditirten Persönlichkeit sich empfehlen und Bürgschaft sür sich leisten
lassen. Mit welcher unglaublichen Sorglosigkeit wird aber bei der Uebernahme
derartiger Kautionen verfahren! Ein gewiegter Geschäftsmann, dem man zu¬
trauen sollte, daß er weiß, was er damit thut, stellt einem jungen, ihm ober-


Ihnen, wenn Sie wieder geistiges Futter für die Sommerfrische brauchen, und
streiche Ihnen dann umgekehrt alle „Brillanten" von Ihrem Wunschzettel weg.

Bibliothekaren sagt man nicht selten ähnliche böse Dinge nach, wie den
Postbeamten am Schalter: sie seien wortkarg, kurz angebunden — grob. Ich
habe Ihnen das gleich damals als schnöde Verleumdung bezeichnet. Wenn
das Publikum, das auf Bibliotheken verkehrt, denselben Untugenden fröhnt,
wie das Publikum am Postschalter, dann mag wohl bisweilen eine gewisse
Aehnlichkeit zwischen den hier und dort expedirenden Beamten zu bemerken sein.
Und solche Untugenden giebt es in der That. Wenn eine Bibliothek vier Stunden
lang geöffnet ist, so kann man sicher sein, daß in der vierten Stunde sich eben
so viele Besucher einstellen, wie in den drei vorhergehenden zusammen, und
wieder in der letzten Viertelstunde so viel, wie in den vorhergeheuden drei Viertel¬
stunden zusammen, und wenn die vier Stunden glücklich um sind, so kann mau
eben so sicher sein, daß nach Thorschluß noch zwei oder drei Nachzügler
kommen, der eine mit größter Unverfrorenheit dahertretend, als ob er ganz
in seinem Rechte wäre, der zweite verlegen die Uhr ziehend und fragend: „Die
Zeit ist wohl eigentlich schon um?" oder: „Es ist wohl eigentlich schon ge¬
schlossen?", der dritte athemlos keuchend und Entschuldigungen stammelnd; und
diese Nachzügler sind immer dieselben Leute, die nicht etwa Amt oder Beruf
verhindert, zur rechten Zeit zu kommen, sondern die eben, sie wissen selbst nicht
warum, überall: im Theater, im Konzert, in Gesellschaft und folglich auch hier
auf der Bibliothek zu spät kommen. Wenn in solchen Viertelstunden und
gegenüber solchen Gästen den Bibliothekar seine eingeborne Liebenswürdigkeit
einmal im Stiche ließe, wäre es ein Wunder?

Aber auch in anderen Stücken hat das Publikum am Schalter mit dem
aus Bibliotheken manche Aehnlichkeit, z. B. darin, daß es oft recht ungenügend
über die „einschlagenden" Pflichten orientirt ist. Eine bekannte Wahrnehmung
ist die, daß alles, was den Menschen umsonst geboten wird, keinen Werth
für sie repräsentirt. Das gilt vor allein von den Büchern. Ein Buch, das
für jemanden einen unerschwinglichen Werth Hütte, wenn er sich's kaufen müßte,
sinkt für ihn sofort zu einem völlig werthlosen Objekte herab, wenn er's ge¬
liehen bekommen kann, und — wird demgemäß behandelt. Diese Auffassung
der Dinge tritt gleich bei der ersten Maßregel hervor, die derjenige ergreifen
muß, der zum ersten Male eine öffentliche Bibliothek benutzen will. Es ist Sitte,
daß Personen, die an der Bibliothek unbekannt sind, von der einen oder anderen
dort akkreditirten Persönlichkeit sich empfehlen und Bürgschaft sür sich leisten
lassen. Mit welcher unglaublichen Sorglosigkeit wird aber bei der Uebernahme
derartiger Kautionen verfahren! Ein gewiegter Geschäftsmann, dem man zu¬
trauen sollte, daß er weiß, was er damit thut, stellt einem jungen, ihm ober-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139553"/>
          <p xml:id="ID_736" prev="#ID_735"> Ihnen, wenn Sie wieder geistiges Futter für die Sommerfrische brauchen, und<lb/>
streiche Ihnen dann umgekehrt alle &#x201E;Brillanten" von Ihrem Wunschzettel weg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Bibliothekaren sagt man nicht selten ähnliche böse Dinge nach, wie den<lb/>
Postbeamten am Schalter: sie seien wortkarg, kurz angebunden &#x2014; grob. Ich<lb/>
habe Ihnen das gleich damals als schnöde Verleumdung bezeichnet. Wenn<lb/>
das Publikum, das auf Bibliotheken verkehrt, denselben Untugenden fröhnt,<lb/>
wie das Publikum am Postschalter, dann mag wohl bisweilen eine gewisse<lb/>
Aehnlichkeit zwischen den hier und dort expedirenden Beamten zu bemerken sein.<lb/>
Und solche Untugenden giebt es in der That. Wenn eine Bibliothek vier Stunden<lb/>
lang geöffnet ist, so kann man sicher sein, daß in der vierten Stunde sich eben<lb/>
so viele Besucher einstellen, wie in den drei vorhergehenden zusammen, und<lb/>
wieder in der letzten Viertelstunde so viel, wie in den vorhergeheuden drei Viertel¬<lb/>
stunden zusammen, und wenn die vier Stunden glücklich um sind, so kann mau<lb/>
eben so sicher sein, daß nach Thorschluß noch zwei oder drei Nachzügler<lb/>
kommen, der eine mit größter Unverfrorenheit dahertretend, als ob er ganz<lb/>
in seinem Rechte wäre, der zweite verlegen die Uhr ziehend und fragend: &#x201E;Die<lb/>
Zeit ist wohl eigentlich schon um?" oder: &#x201E;Es ist wohl eigentlich schon ge¬<lb/>
schlossen?", der dritte athemlos keuchend und Entschuldigungen stammelnd; und<lb/>
diese Nachzügler sind immer dieselben Leute, die nicht etwa Amt oder Beruf<lb/>
verhindert, zur rechten Zeit zu kommen, sondern die eben, sie wissen selbst nicht<lb/>
warum, überall: im Theater, im Konzert, in Gesellschaft und folglich auch hier<lb/>
auf der Bibliothek zu spät kommen. Wenn in solchen Viertelstunden und<lb/>
gegenüber solchen Gästen den Bibliothekar seine eingeborne Liebenswürdigkeit<lb/>
einmal im Stiche ließe, wäre es ein Wunder?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738" next="#ID_739"> Aber auch in anderen Stücken hat das Publikum am Schalter mit dem<lb/>
aus Bibliotheken manche Aehnlichkeit, z. B. darin, daß es oft recht ungenügend<lb/>
über die &#x201E;einschlagenden" Pflichten orientirt ist. Eine bekannte Wahrnehmung<lb/>
ist die, daß alles, was den Menschen umsonst geboten wird, keinen Werth<lb/>
für sie repräsentirt. Das gilt vor allein von den Büchern. Ein Buch, das<lb/>
für jemanden einen unerschwinglichen Werth Hütte, wenn er sich's kaufen müßte,<lb/>
sinkt für ihn sofort zu einem völlig werthlosen Objekte herab, wenn er's ge¬<lb/>
liehen bekommen kann, und &#x2014; wird demgemäß behandelt. Diese Auffassung<lb/>
der Dinge tritt gleich bei der ersten Maßregel hervor, die derjenige ergreifen<lb/>
muß, der zum ersten Male eine öffentliche Bibliothek benutzen will. Es ist Sitte,<lb/>
daß Personen, die an der Bibliothek unbekannt sind, von der einen oder anderen<lb/>
dort akkreditirten Persönlichkeit sich empfehlen und Bürgschaft sür sich leisten<lb/>
lassen. Mit welcher unglaublichen Sorglosigkeit wird aber bei der Uebernahme<lb/>
derartiger Kautionen verfahren! Ein gewiegter Geschäftsmann, dem man zu¬<lb/>
trauen sollte, daß er weiß, was er damit thut, stellt einem jungen, ihm ober-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Ihnen, wenn Sie wieder geistiges Futter für die Sommerfrische brauchen, und streiche Ihnen dann umgekehrt alle „Brillanten" von Ihrem Wunschzettel weg. Bibliothekaren sagt man nicht selten ähnliche böse Dinge nach, wie den Postbeamten am Schalter: sie seien wortkarg, kurz angebunden — grob. Ich habe Ihnen das gleich damals als schnöde Verleumdung bezeichnet. Wenn das Publikum, das auf Bibliotheken verkehrt, denselben Untugenden fröhnt, wie das Publikum am Postschalter, dann mag wohl bisweilen eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den hier und dort expedirenden Beamten zu bemerken sein. Und solche Untugenden giebt es in der That. Wenn eine Bibliothek vier Stunden lang geöffnet ist, so kann man sicher sein, daß in der vierten Stunde sich eben so viele Besucher einstellen, wie in den drei vorhergehenden zusammen, und wieder in der letzten Viertelstunde so viel, wie in den vorhergeheuden drei Viertel¬ stunden zusammen, und wenn die vier Stunden glücklich um sind, so kann mau eben so sicher sein, daß nach Thorschluß noch zwei oder drei Nachzügler kommen, der eine mit größter Unverfrorenheit dahertretend, als ob er ganz in seinem Rechte wäre, der zweite verlegen die Uhr ziehend und fragend: „Die Zeit ist wohl eigentlich schon um?" oder: „Es ist wohl eigentlich schon ge¬ schlossen?", der dritte athemlos keuchend und Entschuldigungen stammelnd; und diese Nachzügler sind immer dieselben Leute, die nicht etwa Amt oder Beruf verhindert, zur rechten Zeit zu kommen, sondern die eben, sie wissen selbst nicht warum, überall: im Theater, im Konzert, in Gesellschaft und folglich auch hier auf der Bibliothek zu spät kommen. Wenn in solchen Viertelstunden und gegenüber solchen Gästen den Bibliothekar seine eingeborne Liebenswürdigkeit einmal im Stiche ließe, wäre es ein Wunder? Aber auch in anderen Stücken hat das Publikum am Schalter mit dem aus Bibliotheken manche Aehnlichkeit, z. B. darin, daß es oft recht ungenügend über die „einschlagenden" Pflichten orientirt ist. Eine bekannte Wahrnehmung ist die, daß alles, was den Menschen umsonst geboten wird, keinen Werth für sie repräsentirt. Das gilt vor allein von den Büchern. Ein Buch, das für jemanden einen unerschwinglichen Werth Hütte, wenn er sich's kaufen müßte, sinkt für ihn sofort zu einem völlig werthlosen Objekte herab, wenn er's ge¬ liehen bekommen kann, und — wird demgemäß behandelt. Diese Auffassung der Dinge tritt gleich bei der ersten Maßregel hervor, die derjenige ergreifen muß, der zum ersten Male eine öffentliche Bibliothek benutzen will. Es ist Sitte, daß Personen, die an der Bibliothek unbekannt sind, von der einen oder anderen dort akkreditirten Persönlichkeit sich empfehlen und Bürgschaft sür sich leisten lassen. Mit welcher unglaublichen Sorglosigkeit wird aber bei der Uebernahme derartiger Kautionen verfahren! Ein gewiegter Geschäftsmann, dem man zu¬ trauen sollte, daß er weiß, was er damit thut, stellt einem jungen, ihm ober-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/260>, abgerufen am 14.05.2024.