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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Wissenschaft eine Zeit lang -- und das ist ein anderer Grund ihrer Zurück¬
haltung -- ziemlich ablehnend gegen eine Herleitung der griechischen Kunst
ans der vorderasiatischen Kultur verhielt und die Verfechter dieser Theorie, Raoul
Rochette, Julius Braun, Ludwig Roß u. A. als Ketzer achtete, hat Schliemann
jetzt einen so zu sagen monumentalen Beweis für den innigen Zusammenhang
der phönizischen, resp, assyrischen Kunst mit den Anfängen der griechischen
geliefert.

Nur in England haben einige Gelehrte versucht, den Schliemann'schen
Funden eine Stellung in der Kulturgeschichte anzuweisen. Nicht mit großem
Glück. Ich denke dabei nicht an Gladstone, der eine lange Vorrede voll tief¬
sinniger, meist unergründlicher Weisheit zu Schliemann's Buch geschrieben hat.
Wie Lord Beaconsfield in seinen Mußestunden Romane schreibt, so beschäftigt
sich der englische ExPremier in der Zeit, welche er seiner politischen Thätigkeit
abmüßigt, mit Forschungen über das homerische Zeitalter. Einen Theil dieser
Studien hat er in einem Buche "Hoinsrie LMoKroinsin" veröffentlicht. Mit
Schliemann theilt er den festen Glauben an die Realität der homerischen Helden
und des in den homerischen Gedichten geschilderten Zeitalters. Im Uebrigen
"übertyrannt er den Tyrannen." Wo Schliemann nur vermuthet und noch
zweifelt, weiß Gladstone ganz gewisses. Nachdem Schliemann von dem ersten,
wohl begreiflichen Freudenrausch über seine Funde ernüchtert war, sah er die Un¬
Haltbarkeit seiner Haupthypothese ein. In der Buchausgabe seiner Berichte
spricht er sich mit großer Reserve über die Identität der gefundenen Leichen
mit denen des Agamemnon und seiner Gefährten aus. Während er zuerst
einen Leichnam, an dem sogar die Fleischtheile noch wohl erhalten waren, mit
vollster Bestimmtheit als den des Agamemnon bezeichnete, läßt er im Buche
wenigstens diese Hypothese ganz fallen. Zwar hütet sich anch Gladstone, den
Schädel mit dem beneidenswerthen Gebiß von zweiunddreißig gesunden Zähnen
für den des Völkerhirten zu erklären. Aber die Identität der gefundenen Ste-'
leite ist ihm über jeden Zweifel erhaben. Er bringt noch eine ganze Menge
von Beweisgründen für die Vermuthung Schliemann's zusammen. Doch ist
der eine immer abenteuerlicher als der andere. Wie Schliemann besitzt er keine
Spur von historischer Kritik.

Nicht viel besser ist es mit den Auslassungen der englischen Fachgelehrten
bestellt. Newton drückt sich ziemlich reservirt aus. Seine Autorität, die, was
die Kenntniß antiker Marmorarbeiten anlangt -- man denke nur an sein Ur¬
theil über die Olympiafunde -- unbestritten ist, würde schließlich hier weniger
schwer ins Gewicht fallen, da es sich vorzugsweise um Produkte der Klein¬
kunst, speziell der Goldschmiedekunst handelt. Ein andrer englischer Archäologe,
A. S. Murray, hat in der "Akademy", verführt durch gewisse auf den Gold-


Wissenschaft eine Zeit lang — und das ist ein anderer Grund ihrer Zurück¬
haltung — ziemlich ablehnend gegen eine Herleitung der griechischen Kunst
ans der vorderasiatischen Kultur verhielt und die Verfechter dieser Theorie, Raoul
Rochette, Julius Braun, Ludwig Roß u. A. als Ketzer achtete, hat Schliemann
jetzt einen so zu sagen monumentalen Beweis für den innigen Zusammenhang
der phönizischen, resp, assyrischen Kunst mit den Anfängen der griechischen
geliefert.

Nur in England haben einige Gelehrte versucht, den Schliemann'schen
Funden eine Stellung in der Kulturgeschichte anzuweisen. Nicht mit großem
Glück. Ich denke dabei nicht an Gladstone, der eine lange Vorrede voll tief¬
sinniger, meist unergründlicher Weisheit zu Schliemann's Buch geschrieben hat.
Wie Lord Beaconsfield in seinen Mußestunden Romane schreibt, so beschäftigt
sich der englische ExPremier in der Zeit, welche er seiner politischen Thätigkeit
abmüßigt, mit Forschungen über das homerische Zeitalter. Einen Theil dieser
Studien hat er in einem Buche „Hoinsrie LMoKroinsin" veröffentlicht. Mit
Schliemann theilt er den festen Glauben an die Realität der homerischen Helden
und des in den homerischen Gedichten geschilderten Zeitalters. Im Uebrigen
„übertyrannt er den Tyrannen." Wo Schliemann nur vermuthet und noch
zweifelt, weiß Gladstone ganz gewisses. Nachdem Schliemann von dem ersten,
wohl begreiflichen Freudenrausch über seine Funde ernüchtert war, sah er die Un¬
Haltbarkeit seiner Haupthypothese ein. In der Buchausgabe seiner Berichte
spricht er sich mit großer Reserve über die Identität der gefundenen Leichen
mit denen des Agamemnon und seiner Gefährten aus. Während er zuerst
einen Leichnam, an dem sogar die Fleischtheile noch wohl erhalten waren, mit
vollster Bestimmtheit als den des Agamemnon bezeichnete, läßt er im Buche
wenigstens diese Hypothese ganz fallen. Zwar hütet sich anch Gladstone, den
Schädel mit dem beneidenswerthen Gebiß von zweiunddreißig gesunden Zähnen
für den des Völkerhirten zu erklären. Aber die Identität der gefundenen Ste-'
leite ist ihm über jeden Zweifel erhaben. Er bringt noch eine ganze Menge
von Beweisgründen für die Vermuthung Schliemann's zusammen. Doch ist
der eine immer abenteuerlicher als der andere. Wie Schliemann besitzt er keine
Spur von historischer Kritik.

Nicht viel besser ist es mit den Auslassungen der englischen Fachgelehrten
bestellt. Newton drückt sich ziemlich reservirt aus. Seine Autorität, die, was
die Kenntniß antiker Marmorarbeiten anlangt — man denke nur an sein Ur¬
theil über die Olympiafunde — unbestritten ist, würde schließlich hier weniger
schwer ins Gewicht fallen, da es sich vorzugsweise um Produkte der Klein¬
kunst, speziell der Goldschmiedekunst handelt. Ein andrer englischer Archäologe,
A. S. Murray, hat in der „Akademy", verführt durch gewisse auf den Gold-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/290>, abgerufen am 14.05.2024.