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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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philologische Vorlesungen bei Ernesti und Christ, und eignete sich in Käsi¬
ne r's philosophischer Gesellschaft eine schlagfertige Dialektik an. Angeregt von
seinem Freunde Weiße schrieb er Komödien, von denen "der junge Gelehrte"
Jan. 1748 durch die Reuber'sche Gesellschaft aufgeführt wurde. Sein zu enger
Verkehr mit den Schauspielern machte die Eltern besorgt, sie ließen ihn nach
Hause kommen, und bald darauf (Aug. 1748) ließ er sich als LWÄ. rasa.,
da er zum Theologen doch verdorben sei, in Wittenberg einschreiben. Ende des
Jahres folgte er seinem Freunde und Landsmann Mylius nach Berlin.

Die Eltern waren bestürzt: sie fürchteten die Einwirkung der freigeistigeu
Stadt, noch mehr den Umgang mit dem liederlichen Mylius, der einmal
ein Pasquill aus den Pastor Lessing gemacht. Ohnehin hatten sie an den
anakreontischen Gedichten des Sohnes Anstoß genommen.

Lessing versicherte, es fiele ihm nicht ein, seine eigenen Empfindungen
darin auszudrücken, er wolle sich nur in allen Gattungen der Poesie versuchen.

"Die Zeit soll lehren, ob der ein besserer Christ ist, der die Grundsätze
der christliche" Lehre im Gedächtniß und im Munde hat, in die Kirche geht,
und alle Gebräuche mitmacht; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat und
durch den Weg der Untersuchung zur Ueberzeugung zu gelangen strebt. Die
christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und
Glauben annehmen soll. Die Meisten erben sie zwar von ihnen wie ihr Ver¬
mögen, aber sie zeigen durch ihre Aufführung, was für rechtschaffene Christen
sie sind. Solange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des
Christenthums, seinen Feind zu lieben, besser beobachtet, so lange zweifle ich,
ob diejenigen Christen sind, die sich dafür ausgeben."

Auch seinen Lebenswandel suchte er zu rechtfertigen. "Ich komme jung
von Schulen, in der gewissen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den
Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, an einen Ort, wo man die ganze
Welt im Kleinen sehn kann. Ich lebte die ersten Monate eingezogen; stets
bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebenso selten an
die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott. Dies Geständnis; kommt mir
etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist, daß mich nichts Schlim¬
meres als der Fleiß so närrisch machte. Doch es dauerte nicht lange, so gin¬
gen mir die Augen auf. Ich lernte einsehn, die Bücher würden mich wohl
gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von
meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was für eine Ungleichheit
wurde ich gewahr! Eine bäurische Schüchternheit, ein verwilderter und unge¬
bauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitte und Umgang, Mienen,
aus welchen Jedermann Verachtung zu lesen glaubte, das waren meine Eigen¬
schaften! Ich empfand eine Scham, wie ich niemals empfunden hatte. Und


philologische Vorlesungen bei Ernesti und Christ, und eignete sich in Käsi¬
ne r's philosophischer Gesellschaft eine schlagfertige Dialektik an. Angeregt von
seinem Freunde Weiße schrieb er Komödien, von denen „der junge Gelehrte"
Jan. 1748 durch die Reuber'sche Gesellschaft aufgeführt wurde. Sein zu enger
Verkehr mit den Schauspielern machte die Eltern besorgt, sie ließen ihn nach
Hause kommen, und bald darauf (Aug. 1748) ließ er sich als LWÄ. rasa.,
da er zum Theologen doch verdorben sei, in Wittenberg einschreiben. Ende des
Jahres folgte er seinem Freunde und Landsmann Mylius nach Berlin.

Die Eltern waren bestürzt: sie fürchteten die Einwirkung der freigeistigeu
Stadt, noch mehr den Umgang mit dem liederlichen Mylius, der einmal
ein Pasquill aus den Pastor Lessing gemacht. Ohnehin hatten sie an den
anakreontischen Gedichten des Sohnes Anstoß genommen.

Lessing versicherte, es fiele ihm nicht ein, seine eigenen Empfindungen
darin auszudrücken, er wolle sich nur in allen Gattungen der Poesie versuchen.

„Die Zeit soll lehren, ob der ein besserer Christ ist, der die Grundsätze
der christliche» Lehre im Gedächtniß und im Munde hat, in die Kirche geht,
und alle Gebräuche mitmacht; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat und
durch den Weg der Untersuchung zur Ueberzeugung zu gelangen strebt. Die
christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und
Glauben annehmen soll. Die Meisten erben sie zwar von ihnen wie ihr Ver¬
mögen, aber sie zeigen durch ihre Aufführung, was für rechtschaffene Christen
sie sind. Solange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des
Christenthums, seinen Feind zu lieben, besser beobachtet, so lange zweifle ich,
ob diejenigen Christen sind, die sich dafür ausgeben."

Auch seinen Lebenswandel suchte er zu rechtfertigen. „Ich komme jung
von Schulen, in der gewissen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den
Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, an einen Ort, wo man die ganze
Welt im Kleinen sehn kann. Ich lebte die ersten Monate eingezogen; stets
bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebenso selten an
die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott. Dies Geständnis; kommt mir
etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist, daß mich nichts Schlim¬
meres als der Fleiß so närrisch machte. Doch es dauerte nicht lange, so gin¬
gen mir die Augen auf. Ich lernte einsehn, die Bücher würden mich wohl
gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von
meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was für eine Ungleichheit
wurde ich gewahr! Eine bäurische Schüchternheit, ein verwilderter und unge¬
bauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitte und Umgang, Mienen,
aus welchen Jedermann Verachtung zu lesen glaubte, das waren meine Eigen¬
schaften! Ich empfand eine Scham, wie ich niemals empfunden hatte. Und


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[0450] philologische Vorlesungen bei Ernesti und Christ, und eignete sich in Käsi¬ ne r's philosophischer Gesellschaft eine schlagfertige Dialektik an. Angeregt von seinem Freunde Weiße schrieb er Komödien, von denen „der junge Gelehrte" Jan. 1748 durch die Reuber'sche Gesellschaft aufgeführt wurde. Sein zu enger Verkehr mit den Schauspielern machte die Eltern besorgt, sie ließen ihn nach Hause kommen, und bald darauf (Aug. 1748) ließ er sich als LWÄ. rasa., da er zum Theologen doch verdorben sei, in Wittenberg einschreiben. Ende des Jahres folgte er seinem Freunde und Landsmann Mylius nach Berlin. Die Eltern waren bestürzt: sie fürchteten die Einwirkung der freigeistigeu Stadt, noch mehr den Umgang mit dem liederlichen Mylius, der einmal ein Pasquill aus den Pastor Lessing gemacht. Ohnehin hatten sie an den anakreontischen Gedichten des Sohnes Anstoß genommen. Lessing versicherte, es fiele ihm nicht ein, seine eigenen Empfindungen darin auszudrücken, er wolle sich nur in allen Gattungen der Poesie versuchen. „Die Zeit soll lehren, ob der ein besserer Christ ist, der die Grundsätze der christliche» Lehre im Gedächtniß und im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebräuche mitmacht; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat und durch den Weg der Untersuchung zur Ueberzeugung zu gelangen strebt. Die christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und Glauben annehmen soll. Die Meisten erben sie zwar von ihnen wie ihr Ver¬ mögen, aber sie zeigen durch ihre Aufführung, was für rechtschaffene Christen sie sind. Solange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Christenthums, seinen Feind zu lieben, besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Christen sind, die sich dafür ausgeben." Auch seinen Lebenswandel suchte er zu rechtfertigen. „Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, an einen Ort, wo man die ganze Welt im Kleinen sehn kann. Ich lebte die ersten Monate eingezogen; stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebenso selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott. Dies Geständnis; kommt mir etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist, daß mich nichts Schlim¬ meres als der Fleiß so närrisch machte. Doch es dauerte nicht lange, so gin¬ gen mir die Augen auf. Ich lernte einsehn, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was für eine Ungleichheit wurde ich gewahr! Eine bäurische Schüchternheit, ein verwilderter und unge¬ bauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitte und Umgang, Mienen, aus welchen Jedermann Verachtung zu lesen glaubte, das waren meine Eigen¬ schaften! Ich empfand eine Scham, wie ich niemals empfunden hatte. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/450>, abgerufen am 13.05.2024.