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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Woher diese frappante Erscheinung? Karl Marx macht sich die Sache
sehr leicht; als auf dem Haager Kongresse der Internationalen die englischen
Delegirten ausblieben, denunzirte er in ohnmächtiger Wuth die Führer der
dortigen Arbeiter, Bradlaugh, Odger und Genossen, sich der Negierung ver¬
kauft zu haben. Darüber ist nun weiter kein Wort zu verlieren. Kaum we¬
niger würde man aber irre gehen, wenn man etwa annähme, daß die bekannte
Erbweisheit der Engländer, ihr massiver coinraon ssuss sich unzulänglich für
die Wahngebilde der Weltverbesserer erwiese. Dagegen sprechen Thatsachen;
der Chartismus war drohender und gefährlicher, wie die deutsche Sozialdemo-
kratie heute ist und hoffentlich jemals sein wird. Vielmehr liegt die hauptsäch¬
liche Ursache jenes Zustandes darin, daß England am ehesten den gewaltigen
Umwälzungen, welche das Entstehen und das Wachsthum der Großindustrie
in den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Landes hervorruft, in seinen gesetz¬
lichen Einrichtungen Ausdruck gegeben hat. Eben weil sich die thatsächliche
Entwickelung dort am rapidesten vollzog, gelangte sie auch am schnellsten zu
ihrer sozialpolitischen Fixirung. Vornehmlich eine humane Fabrikgesetzgebung,
von welcher selbst Karl Marx in einem unbewachten Augenblicke gesteht, daß
sie eine geistige und leibliche Wiedergeburt der englischen Arbeiter geschaffen
habe, erstickte alle sozialistischen Keime. Und wenn diese Gesetzgebung an sich
aus dem furchtbaren Zwange einer immer weiter um sich greifenden Degene¬
ration der untern Volksschichten heraus geboren wurde, so waren doch ihre
eifrigsten und fleißigsten Geburtshelfer die englischen Fabrikinspektoren, deren
Arbeiten und Kämpfe in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhun¬
derts wahrhaft heroischer Natur sind und die höchste Bewunderung erwecken,
wenn man sie in ihren einzelnen Phasen verfolgt.

Ein Land soll vom andern lernen und in der theoretischen Diskussion der
deutschen Nationalökonomie ist kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber,
daß wir die englische Fabrik- und Werkstättengesetzgebung im entsprechenden
Anschlusse an die konkreten Verhältnisse der heimischen Industrie einmal nach¬
bilden werden. Nur machen ein glücklicher und ein unglücklicher Umstand
diese Erkenntniß vorläufig uoch ziemlich unfruchtbar. Einerseits fehlt uns Gott
sei Dank! jener grausame Stachel unerbittlicher Nothwendigkeit, welcher in
England der wirksamste Hebel der Reform wurde; andererseits neigt unsere
philosophisch-träumerische Naturanlage, die uns in Fragen der nationalen
Wirthschaft ebenso verhängnißvoll zu werden droht, wie sie es ehedem in
Fragen der nationalen Politik war, vielmehr dazu, etwas weitläufige und
weitsichtige Arbeiter- und Volksbeglücknngspläne zu entwerfen, als die That¬
sachen zu nehmen wie sie sind und zu bessern, wie wir können. "Reform der
Gewerbeordnung" ist ein Schlagwort, das augenblicklich auf allen Zungen


Woher diese frappante Erscheinung? Karl Marx macht sich die Sache
sehr leicht; als auf dem Haager Kongresse der Internationalen die englischen
Delegirten ausblieben, denunzirte er in ohnmächtiger Wuth die Führer der
dortigen Arbeiter, Bradlaugh, Odger und Genossen, sich der Negierung ver¬
kauft zu haben. Darüber ist nun weiter kein Wort zu verlieren. Kaum we¬
niger würde man aber irre gehen, wenn man etwa annähme, daß die bekannte
Erbweisheit der Engländer, ihr massiver coinraon ssuss sich unzulänglich für
die Wahngebilde der Weltverbesserer erwiese. Dagegen sprechen Thatsachen;
der Chartismus war drohender und gefährlicher, wie die deutsche Sozialdemo-
kratie heute ist und hoffentlich jemals sein wird. Vielmehr liegt die hauptsäch¬
liche Ursache jenes Zustandes darin, daß England am ehesten den gewaltigen
Umwälzungen, welche das Entstehen und das Wachsthum der Großindustrie
in den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Landes hervorruft, in seinen gesetz¬
lichen Einrichtungen Ausdruck gegeben hat. Eben weil sich die thatsächliche
Entwickelung dort am rapidesten vollzog, gelangte sie auch am schnellsten zu
ihrer sozialpolitischen Fixirung. Vornehmlich eine humane Fabrikgesetzgebung,
von welcher selbst Karl Marx in einem unbewachten Augenblicke gesteht, daß
sie eine geistige und leibliche Wiedergeburt der englischen Arbeiter geschaffen
habe, erstickte alle sozialistischen Keime. Und wenn diese Gesetzgebung an sich
aus dem furchtbaren Zwange einer immer weiter um sich greifenden Degene¬
ration der untern Volksschichten heraus geboren wurde, so waren doch ihre
eifrigsten und fleißigsten Geburtshelfer die englischen Fabrikinspektoren, deren
Arbeiten und Kämpfe in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhun¬
derts wahrhaft heroischer Natur sind und die höchste Bewunderung erwecken,
wenn man sie in ihren einzelnen Phasen verfolgt.

Ein Land soll vom andern lernen und in der theoretischen Diskussion der
deutschen Nationalökonomie ist kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber,
daß wir die englische Fabrik- und Werkstättengesetzgebung im entsprechenden
Anschlusse an die konkreten Verhältnisse der heimischen Industrie einmal nach¬
bilden werden. Nur machen ein glücklicher und ein unglücklicher Umstand
diese Erkenntniß vorläufig uoch ziemlich unfruchtbar. Einerseits fehlt uns Gott
sei Dank! jener grausame Stachel unerbittlicher Nothwendigkeit, welcher in
England der wirksamste Hebel der Reform wurde; andererseits neigt unsere
philosophisch-träumerische Naturanlage, die uns in Fragen der nationalen
Wirthschaft ebenso verhängnißvoll zu werden droht, wie sie es ehedem in
Fragen der nationalen Politik war, vielmehr dazu, etwas weitläufige und
weitsichtige Arbeiter- und Volksbeglücknngspläne zu entwerfen, als die That¬
sachen zu nehmen wie sie sind und zu bessern, wie wir können. „Reform der
Gewerbeordnung" ist ein Schlagwort, das augenblicklich auf allen Zungen


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[0462] Woher diese frappante Erscheinung? Karl Marx macht sich die Sache sehr leicht; als auf dem Haager Kongresse der Internationalen die englischen Delegirten ausblieben, denunzirte er in ohnmächtiger Wuth die Führer der dortigen Arbeiter, Bradlaugh, Odger und Genossen, sich der Negierung ver¬ kauft zu haben. Darüber ist nun weiter kein Wort zu verlieren. Kaum we¬ niger würde man aber irre gehen, wenn man etwa annähme, daß die bekannte Erbweisheit der Engländer, ihr massiver coinraon ssuss sich unzulänglich für die Wahngebilde der Weltverbesserer erwiese. Dagegen sprechen Thatsachen; der Chartismus war drohender und gefährlicher, wie die deutsche Sozialdemo- kratie heute ist und hoffentlich jemals sein wird. Vielmehr liegt die hauptsäch¬ liche Ursache jenes Zustandes darin, daß England am ehesten den gewaltigen Umwälzungen, welche das Entstehen und das Wachsthum der Großindustrie in den wirthschaftlichen Verhältnissen eines Landes hervorruft, in seinen gesetz¬ lichen Einrichtungen Ausdruck gegeben hat. Eben weil sich die thatsächliche Entwickelung dort am rapidesten vollzog, gelangte sie auch am schnellsten zu ihrer sozialpolitischen Fixirung. Vornehmlich eine humane Fabrikgesetzgebung, von welcher selbst Karl Marx in einem unbewachten Augenblicke gesteht, daß sie eine geistige und leibliche Wiedergeburt der englischen Arbeiter geschaffen habe, erstickte alle sozialistischen Keime. Und wenn diese Gesetzgebung an sich aus dem furchtbaren Zwange einer immer weiter um sich greifenden Degene¬ ration der untern Volksschichten heraus geboren wurde, so waren doch ihre eifrigsten und fleißigsten Geburtshelfer die englischen Fabrikinspektoren, deren Arbeiten und Kämpfe in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhun¬ derts wahrhaft heroischer Natur sind und die höchste Bewunderung erwecken, wenn man sie in ihren einzelnen Phasen verfolgt. Ein Land soll vom andern lernen und in der theoretischen Diskussion der deutschen Nationalökonomie ist kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß wir die englische Fabrik- und Werkstättengesetzgebung im entsprechenden Anschlusse an die konkreten Verhältnisse der heimischen Industrie einmal nach¬ bilden werden. Nur machen ein glücklicher und ein unglücklicher Umstand diese Erkenntniß vorläufig uoch ziemlich unfruchtbar. Einerseits fehlt uns Gott sei Dank! jener grausame Stachel unerbittlicher Nothwendigkeit, welcher in England der wirksamste Hebel der Reform wurde; andererseits neigt unsere philosophisch-träumerische Naturanlage, die uns in Fragen der nationalen Wirthschaft ebenso verhängnißvoll zu werden droht, wie sie es ehedem in Fragen der nationalen Politik war, vielmehr dazu, etwas weitläufige und weitsichtige Arbeiter- und Volksbeglücknngspläne zu entwerfen, als die That¬ sachen zu nehmen wie sie sind und zu bessern, wie wir können. „Reform der Gewerbeordnung" ist ein Schlagwort, das augenblicklich auf allen Zungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/462>, abgerufen am 14.05.2024.