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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Mehr vom Inhalt und der Handlung des ersten Romans wollen wir
nicht verrathen. Wenn diese wenigen Andeutungen das Interesse des Lesers
erregt haben, so werden sie uns gewiß Dank wissen, wenn sie durch dieselben
veranlaßt werden, sich den hohen Genuß dieser Lektüre zu verschaffen.

Der zweite Roman Nievo's, den die vorliegende Sammlung bietet, die
"Erinnerungen eines Achtzigjährigen", beginnt zeitlich nicht viel später, als der
erste endet, mit der Geburt Napoleon Bonapartes (15. August 1769.) Paul
Heyse stellt diesen zweiten Roman sichtlich noch höher wie den ersten, und er
hat ja zum großen Theil Recht. Eine Gestalt wie die Heldin des zweiten
Romans, Pisana, suchen wir im ersten vergebens. Reiner und ideal-vollkom¬
mener ist Morosina bei weitem. Menschlicher, der noch chaotischer verwirrten
Zeit entsprechender, und mit noch größerer Lebens- und Seelenkenntniß erfaßt,
Pisana. "Hätte Nievo Nichts geschaffen, als jene Pisana, die weibliche Haupt¬
figur seiner "Bekenntnisse", so würde er zu den Meistern ersten Ranges ge¬
zählt werden müssen", sagt Paul Heyse. "Eine Gestalt aus so widerstreiten¬
den Elementen gemischt, lichens- und hassenswürdig, leichtsinnig und treu,
stolz und anspruchslos, eitel- und selbstlos, ohne sonderliche geistige Begabung
und doch mit der verhäugnißvollen Macht über die ernsthaftesten Geister aus¬
gestattet, aller Schwächen und aller heroischen Opfer ihres Geschlechtes fähig,
dies Alles in jedem Augenblick nicht blos als ein psychologisches Räthsel, sondern
als lebenathmende Gestalt vor unseren Augen sich bewegend, ist eine Schöpfung
des größten Dichters würdig, die Nievo's Namen schon allein den unverge߬
lichen zugestellen würde, wenn uicht, minder glänzend, aber vollkommen eben-
bttrdig, so viel andre Figuren v"n gleich unverwüstlicher Lebenskraft sich neben
diesen reizenden Dämon stellten".

Aber nicht nur die Männer, die Helden sein sollten, stehen neben diesem
Weibe weit zurück -- Lueilio, die idealste Männergestalt des zweiten Romans
spielt nur eine Nebenrolle neben Carlino, und Held Carlino, der "Achtzig¬
jährige" ist entschieden kein Held, sondern ein ziemlich unbedeutender und mit¬
unter auch recht philiströser guter Man -- was schlimmer ist, auch die beiden
Theile des Romans stehen künstlerisch in einem argen Mißverhältniß zu ein¬
ander. Der erste Band bietet uns eine Reihe von landschaftlichen, historischen,
psychologischen Bildern von klassischer Reinheit und Klarheit. Alles ist hier
zur höchsten Reife gediehen, offenbar zugleich in so festen Strichen gegeben --
auf Grund zeitgenössischer Tagebücher oder Familientraditionen. Der zweite Band
dagegen ist -- auch mit den sehr sein empfundenen Kürzungen und Strichen,
welche die deutsche Ausgabe desselben unter Heyse's Anleitung an dem Original
vorgenommen -- doch unverkennbar ein unvollendetes Werk, von welchem der
Dichter inmitten festerer Gestaltung, die seinen Geist beschäftigte, durch den


Mehr vom Inhalt und der Handlung des ersten Romans wollen wir
nicht verrathen. Wenn diese wenigen Andeutungen das Interesse des Lesers
erregt haben, so werden sie uns gewiß Dank wissen, wenn sie durch dieselben
veranlaßt werden, sich den hohen Genuß dieser Lektüre zu verschaffen.

Der zweite Roman Nievo's, den die vorliegende Sammlung bietet, die
„Erinnerungen eines Achtzigjährigen", beginnt zeitlich nicht viel später, als der
erste endet, mit der Geburt Napoleon Bonapartes (15. August 1769.) Paul
Heyse stellt diesen zweiten Roman sichtlich noch höher wie den ersten, und er
hat ja zum großen Theil Recht. Eine Gestalt wie die Heldin des zweiten
Romans, Pisana, suchen wir im ersten vergebens. Reiner und ideal-vollkom¬
mener ist Morosina bei weitem. Menschlicher, der noch chaotischer verwirrten
Zeit entsprechender, und mit noch größerer Lebens- und Seelenkenntniß erfaßt,
Pisana. „Hätte Nievo Nichts geschaffen, als jene Pisana, die weibliche Haupt¬
figur seiner „Bekenntnisse", so würde er zu den Meistern ersten Ranges ge¬
zählt werden müssen", sagt Paul Heyse. „Eine Gestalt aus so widerstreiten¬
den Elementen gemischt, lichens- und hassenswürdig, leichtsinnig und treu,
stolz und anspruchslos, eitel- und selbstlos, ohne sonderliche geistige Begabung
und doch mit der verhäugnißvollen Macht über die ernsthaftesten Geister aus¬
gestattet, aller Schwächen und aller heroischen Opfer ihres Geschlechtes fähig,
dies Alles in jedem Augenblick nicht blos als ein psychologisches Räthsel, sondern
als lebenathmende Gestalt vor unseren Augen sich bewegend, ist eine Schöpfung
des größten Dichters würdig, die Nievo's Namen schon allein den unverge߬
lichen zugestellen würde, wenn uicht, minder glänzend, aber vollkommen eben-
bttrdig, so viel andre Figuren v»n gleich unverwüstlicher Lebenskraft sich neben
diesen reizenden Dämon stellten".

Aber nicht nur die Männer, die Helden sein sollten, stehen neben diesem
Weibe weit zurück — Lueilio, die idealste Männergestalt des zweiten Romans
spielt nur eine Nebenrolle neben Carlino, und Held Carlino, der „Achtzig¬
jährige" ist entschieden kein Held, sondern ein ziemlich unbedeutender und mit¬
unter auch recht philiströser guter Man — was schlimmer ist, auch die beiden
Theile des Romans stehen künstlerisch in einem argen Mißverhältniß zu ein¬
ander. Der erste Band bietet uns eine Reihe von landschaftlichen, historischen,
psychologischen Bildern von klassischer Reinheit und Klarheit. Alles ist hier
zur höchsten Reife gediehen, offenbar zugleich in so festen Strichen gegeben —
auf Grund zeitgenössischer Tagebücher oder Familientraditionen. Der zweite Band
dagegen ist — auch mit den sehr sein empfundenen Kürzungen und Strichen,
welche die deutsche Ausgabe desselben unter Heyse's Anleitung an dem Original
vorgenommen — doch unverkennbar ein unvollendetes Werk, von welchem der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/474>, abgerufen am 30.05.2024.