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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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bewachen, bis nach drei Monaten die Ablösung eintrifft, hat die Liebe eines
reinen Naturkindes der Insel gewonnen und die arme Carmela betrogen. Er
hat sie verlassen, rein und unschuldig wie sie war, und ihr versprochen, bald
zurückzukehren; aber er kehrt nicht zurück, er macht auf dem Festlande eine
gute Partie und das arme Mädchen verfällt in Wahnsinn. Sie ist in dem
eigenthümliche Wahn befangen, daß der Offizier der neuen Ablösung, die immer
nach drei Monaten auf der Insel eintrifft, ihr sehnlich erwarteter Bräutigam
sei. Sie umarmt ihn bei seiner Ankunft, sie setzt sich die Nacht durch auf die
Steinstufen vor seiner Wohnung, sie lacht und weint, wenn er heraustritt und
folgt jedem seiner Schritte. Wir sehen in ihr, wenn auch der Dichter zu fein
ist das ausdrücklich auszusprechen, das Opfer der soldatischen Hybris, wie sie in
der alten Zeit dem Bürgerstand gegenübertrat: dem Volk entfremdet, auf den
eigenen Stand angewiesen und beschränkt, darum entschlossen, aus dem Verkehr
mit dem Volke alle Genüsse zu ziehen, welche das rasch wechselnde Dasein, der
Moment des Verweilens an einem Orte dem Soldaten bieten konnte. Der
Offizier, der zu Anfang unserer Erzählung das entlegene Eiland mit seiner
Truppe betritt, bezeichnend genug gerade im Jahre 1866'^), wird uns nie
anders genannt, als -- "der Officier". Er ist eben der Typus des Officiers-
corps der neuen Zeit. Er erkennt rasch und schmerzlich bewegt, was sein Vor¬
gänger an dem Seelenfrieden dieser Unglücklichen gefrevelt und er wendet allen
Scharfsinn und alle Kunst an, um den Frevel des Kameraden zu sühnen, die
Wahnsinnige zu heile". Er thut das anfangs ohne tieferen persönlichen An¬
theil an der Unglücklichen, gewissermaßen nur um seine Uniform wieder zu Ehren
Zu bringen. Je mehr sich aber seine Sympathie zu der Irrsinnigen in Liebe
verwandelt, um so energischer und glücklicher werden seine Heilnngsversuche. Er
eignet sich allmälig, um deu Wahn des Mädchens immer mehr ihr als Wahrheit
erscheinen zu lassen, alle Eigenheiten des Treulosen an. Er trägt genau
die Kleidung, die dieser trug; er lernt fechten wie er; er fingt ihr dieselben
Lieder, die Jener sang; er sucht sich endlich genau zu unterrichten, wie die
letzten Vorgänge bei der Abreise jenes Offiziers sich zutrugen, ehe sie wahn¬
sinnig wurde; und als er das erfahren, läßt er in Gegenwart des aufmerksam
beobachtenden Mädchens noch einmal jene Vorgänge, bis in's Kleinste treu
kopirt, vor ihrem Auge sich wiederholen. Und wie nun "der Offizier" die letzte
entscheidende Bewegung macht, um sich ans dem Kreise der versammelten --
nicht blos rollenmäßig angetrunkenen -- Honoratioren des Ortes und des
Garnisonsarztes mit einem entschlossenen "Vorwärts!" hinweg zu begeben auf
das angeblich harrende Dampfschiff -- "da dringt ein lauter verzweifelter



) "Bor drei Jahren." Die Bozzetti erschienen 1369.

bewachen, bis nach drei Monaten die Ablösung eintrifft, hat die Liebe eines
reinen Naturkindes der Insel gewonnen und die arme Carmela betrogen. Er
hat sie verlassen, rein und unschuldig wie sie war, und ihr versprochen, bald
zurückzukehren; aber er kehrt nicht zurück, er macht auf dem Festlande eine
gute Partie und das arme Mädchen verfällt in Wahnsinn. Sie ist in dem
eigenthümliche Wahn befangen, daß der Offizier der neuen Ablösung, die immer
nach drei Monaten auf der Insel eintrifft, ihr sehnlich erwarteter Bräutigam
sei. Sie umarmt ihn bei seiner Ankunft, sie setzt sich die Nacht durch auf die
Steinstufen vor seiner Wohnung, sie lacht und weint, wenn er heraustritt und
folgt jedem seiner Schritte. Wir sehen in ihr, wenn auch der Dichter zu fein
ist das ausdrücklich auszusprechen, das Opfer der soldatischen Hybris, wie sie in
der alten Zeit dem Bürgerstand gegenübertrat: dem Volk entfremdet, auf den
eigenen Stand angewiesen und beschränkt, darum entschlossen, aus dem Verkehr
mit dem Volke alle Genüsse zu ziehen, welche das rasch wechselnde Dasein, der
Moment des Verweilens an einem Orte dem Soldaten bieten konnte. Der
Offizier, der zu Anfang unserer Erzählung das entlegene Eiland mit seiner
Truppe betritt, bezeichnend genug gerade im Jahre 1866'^), wird uns nie
anders genannt, als — „der Officier". Er ist eben der Typus des Officiers-
corps der neuen Zeit. Er erkennt rasch und schmerzlich bewegt, was sein Vor¬
gänger an dem Seelenfrieden dieser Unglücklichen gefrevelt und er wendet allen
Scharfsinn und alle Kunst an, um den Frevel des Kameraden zu sühnen, die
Wahnsinnige zu heile». Er thut das anfangs ohne tieferen persönlichen An¬
theil an der Unglücklichen, gewissermaßen nur um seine Uniform wieder zu Ehren
Zu bringen. Je mehr sich aber seine Sympathie zu der Irrsinnigen in Liebe
verwandelt, um so energischer und glücklicher werden seine Heilnngsversuche. Er
eignet sich allmälig, um deu Wahn des Mädchens immer mehr ihr als Wahrheit
erscheinen zu lassen, alle Eigenheiten des Treulosen an. Er trägt genau
die Kleidung, die dieser trug; er lernt fechten wie er; er fingt ihr dieselben
Lieder, die Jener sang; er sucht sich endlich genau zu unterrichten, wie die
letzten Vorgänge bei der Abreise jenes Offiziers sich zutrugen, ehe sie wahn¬
sinnig wurde; und als er das erfahren, läßt er in Gegenwart des aufmerksam
beobachtenden Mädchens noch einmal jene Vorgänge, bis in's Kleinste treu
kopirt, vor ihrem Auge sich wiederholen. Und wie nun „der Offizier" die letzte
entscheidende Bewegung macht, um sich ans dem Kreise der versammelten —
nicht blos rollenmäßig angetrunkenen — Honoratioren des Ortes und des
Garnisonsarztes mit einem entschlossenen „Vorwärts!" hinweg zu begeben auf
das angeblich harrende Dampfschiff — „da dringt ein lauter verzweifelter



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[0355] bewachen, bis nach drei Monaten die Ablösung eintrifft, hat die Liebe eines reinen Naturkindes der Insel gewonnen und die arme Carmela betrogen. Er hat sie verlassen, rein und unschuldig wie sie war, und ihr versprochen, bald zurückzukehren; aber er kehrt nicht zurück, er macht auf dem Festlande eine gute Partie und das arme Mädchen verfällt in Wahnsinn. Sie ist in dem eigenthümliche Wahn befangen, daß der Offizier der neuen Ablösung, die immer nach drei Monaten auf der Insel eintrifft, ihr sehnlich erwarteter Bräutigam sei. Sie umarmt ihn bei seiner Ankunft, sie setzt sich die Nacht durch auf die Steinstufen vor seiner Wohnung, sie lacht und weint, wenn er heraustritt und folgt jedem seiner Schritte. Wir sehen in ihr, wenn auch der Dichter zu fein ist das ausdrücklich auszusprechen, das Opfer der soldatischen Hybris, wie sie in der alten Zeit dem Bürgerstand gegenübertrat: dem Volk entfremdet, auf den eigenen Stand angewiesen und beschränkt, darum entschlossen, aus dem Verkehr mit dem Volke alle Genüsse zu ziehen, welche das rasch wechselnde Dasein, der Moment des Verweilens an einem Orte dem Soldaten bieten konnte. Der Offizier, der zu Anfang unserer Erzählung das entlegene Eiland mit seiner Truppe betritt, bezeichnend genug gerade im Jahre 1866'^), wird uns nie anders genannt, als — „der Officier". Er ist eben der Typus des Officiers- corps der neuen Zeit. Er erkennt rasch und schmerzlich bewegt, was sein Vor¬ gänger an dem Seelenfrieden dieser Unglücklichen gefrevelt und er wendet allen Scharfsinn und alle Kunst an, um den Frevel des Kameraden zu sühnen, die Wahnsinnige zu heile». Er thut das anfangs ohne tieferen persönlichen An¬ theil an der Unglücklichen, gewissermaßen nur um seine Uniform wieder zu Ehren Zu bringen. Je mehr sich aber seine Sympathie zu der Irrsinnigen in Liebe verwandelt, um so energischer und glücklicher werden seine Heilnngsversuche. Er eignet sich allmälig, um deu Wahn des Mädchens immer mehr ihr als Wahrheit erscheinen zu lassen, alle Eigenheiten des Treulosen an. Er trägt genau die Kleidung, die dieser trug; er lernt fechten wie er; er fingt ihr dieselben Lieder, die Jener sang; er sucht sich endlich genau zu unterrichten, wie die letzten Vorgänge bei der Abreise jenes Offiziers sich zutrugen, ehe sie wahn¬ sinnig wurde; und als er das erfahren, läßt er in Gegenwart des aufmerksam beobachtenden Mädchens noch einmal jene Vorgänge, bis in's Kleinste treu kopirt, vor ihrem Auge sich wiederholen. Und wie nun „der Offizier" die letzte entscheidende Bewegung macht, um sich ans dem Kreise der versammelten — nicht blos rollenmäßig angetrunkenen — Honoratioren des Ortes und des Garnisonsarztes mit einem entschlossenen „Vorwärts!" hinweg zu begeben auf das angeblich harrende Dampfschiff — „da dringt ein lauter verzweifelter ) „Bor drei Jahren." Die Bozzetti erschienen 1369.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/355>, abgerufen am 27.07.2024.