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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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sein, gibt er zu und, ohne auf eine Wendung des Zentrums mehr zu reflek-
tiren, fordert er die beiden konservativen und die nationalliberale Partei auf,
des Landes, nicht der Regierung wegen fest zu dieser zu halten und so eine
geschlossene Mehrheit zu bilden gegen das sechsfach zusammengesetzte Gros der
negirenden Parteien. Um dieses Zieles willen gibt der Kanzler bereits Fas¬
sungen des Gesetzes dran, durch welche "das Schiff umfänglich gezimmert" wird.
Er will um jenen Preis sogar riskiren, daß das Sozialistengesetz vorerst viel¬
leicht hie und da nicht ausreicht und später ergänzt werden muß.

Hiermit war die Durchführung des Gesetzes nach den Kommissionsbe¬
schlüssen, trotz ihrer mannichfach bedenklichen Punkte, gesichert. Glauben die
Regierungen bei solcher Gestaltung des Entwurfs die Verantwortlichkeit über¬
nehmen zu können, so ist das auch ein Standpunkt und vorläufig nichts da¬
wider einzuwenden. Im Uebrigen bezeichneten die Erklärungen Bismarck's einen
historischen Akt. Welchen Erfolg seine Aufforderung an die drei Parteien haben
wird, kann sich frühestens in der nächsten ordentlichen Session des Reichs¬
tags zeigen. Daß an eine Verschmelzung dieser Parteien vorläufig nicht ge¬
dacht werden kaun, darin geben wir Bennigsen vollkommen recht, der nach aus¬
führlicher Darlegung der Gründe seiner veränderten Haltung zum Ausnahme¬
gesetz den patriotischen Appell des Kanzlers freudig und mit Anerkennung auf¬
nahm und wir können es ihm nicht verdenken, daß er Angesichts der bedenk¬
lichen, unter die Deutschkonservativeu aufgenommenen Elemente von vorn her¬
ein die Zweifel in die Möglichkeit eines auch mir gemeinsamen Vorgehens an¬
deutete. Die Gelegenheit, ein solches zu persistiren, ließ sich Windthorst bei
späterer und ungeeigneter Gelegenheit nicht entgehen. Der Werth von Ben-
nigsen's Vortrag bestand übrigens zu nicht geringem Theile in der Art, wie
er, im Hinblick auf die Verhältnisse England's, die drohende Gefahr von einer
neuen Seite schilderte.

Eine große Geduldsprobe war dem Reichstag am 10. Oktober durch die
mehr als zweistündige Rede Hasselmann's beschieden. Gewidmet einer aus¬
führlichen Entwicklung der sozialdemokratischen bekannten Probleme, war die¬
selbe von einer Menge boshafter Angriffe auf den Kanzler durchsetzt. Seine
Partei schilderte der Agitator als die friedliche, das Eigenthum schützende, die
Familie achtende, die in ihrer Weltbeglückung nur durch die fatale "moderne
Gesellschaft" gehindert werde. Das Hauptverdienst der Rede war die an
ihren Schluß verlegte nahezu direkte Aufforderung zum Aufstand. Es nahm
sich eigenthümlich aus, daß gegen die Erklärung, "das durch dieses Gesetz ge¬
ächtete Volk werde sich mit Gewalt vom Druck der Tyrannei befreien" nur
ein Ordnungsruf zu Gebote stand. Eine wohlthuende Erscheinung nach diesen
Phrasen war Löwe mit seinem Hinweis auf den Schwindel, welchen solche


sein, gibt er zu und, ohne auf eine Wendung des Zentrums mehr zu reflek-
tiren, fordert er die beiden konservativen und die nationalliberale Partei auf,
des Landes, nicht der Regierung wegen fest zu dieser zu halten und so eine
geschlossene Mehrheit zu bilden gegen das sechsfach zusammengesetzte Gros der
negirenden Parteien. Um dieses Zieles willen gibt der Kanzler bereits Fas¬
sungen des Gesetzes dran, durch welche „das Schiff umfänglich gezimmert" wird.
Er will um jenen Preis sogar riskiren, daß das Sozialistengesetz vorerst viel¬
leicht hie und da nicht ausreicht und später ergänzt werden muß.

Hiermit war die Durchführung des Gesetzes nach den Kommissionsbe¬
schlüssen, trotz ihrer mannichfach bedenklichen Punkte, gesichert. Glauben die
Regierungen bei solcher Gestaltung des Entwurfs die Verantwortlichkeit über¬
nehmen zu können, so ist das auch ein Standpunkt und vorläufig nichts da¬
wider einzuwenden. Im Uebrigen bezeichneten die Erklärungen Bismarck's einen
historischen Akt. Welchen Erfolg seine Aufforderung an die drei Parteien haben
wird, kann sich frühestens in der nächsten ordentlichen Session des Reichs¬
tags zeigen. Daß an eine Verschmelzung dieser Parteien vorläufig nicht ge¬
dacht werden kaun, darin geben wir Bennigsen vollkommen recht, der nach aus¬
führlicher Darlegung der Gründe seiner veränderten Haltung zum Ausnahme¬
gesetz den patriotischen Appell des Kanzlers freudig und mit Anerkennung auf¬
nahm und wir können es ihm nicht verdenken, daß er Angesichts der bedenk¬
lichen, unter die Deutschkonservativeu aufgenommenen Elemente von vorn her¬
ein die Zweifel in die Möglichkeit eines auch mir gemeinsamen Vorgehens an¬
deutete. Die Gelegenheit, ein solches zu persistiren, ließ sich Windthorst bei
späterer und ungeeigneter Gelegenheit nicht entgehen. Der Werth von Ben-
nigsen's Vortrag bestand übrigens zu nicht geringem Theile in der Art, wie
er, im Hinblick auf die Verhältnisse England's, die drohende Gefahr von einer
neuen Seite schilderte.

Eine große Geduldsprobe war dem Reichstag am 10. Oktober durch die
mehr als zweistündige Rede Hasselmann's beschieden. Gewidmet einer aus¬
führlichen Entwicklung der sozialdemokratischen bekannten Probleme, war die¬
selbe von einer Menge boshafter Angriffe auf den Kanzler durchsetzt. Seine
Partei schilderte der Agitator als die friedliche, das Eigenthum schützende, die
Familie achtende, die in ihrer Weltbeglückung nur durch die fatale „moderne
Gesellschaft" gehindert werde. Das Hauptverdienst der Rede war die an
ihren Schluß verlegte nahezu direkte Aufforderung zum Aufstand. Es nahm
sich eigenthümlich aus, daß gegen die Erklärung, „das durch dieses Gesetz ge¬
ächtete Volk werde sich mit Gewalt vom Druck der Tyrannei befreien" nur
ein Ordnungsruf zu Gebote stand. Eine wohlthuende Erscheinung nach diesen
Phrasen war Löwe mit seinem Hinweis auf den Schwindel, welchen solche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/122>, abgerufen am 04.06.2024.