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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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schon wiederholt gekämpft hat. China ist so zu sagen der "längste" Grenz-
uachbar Rußland's, denn auf tausende von Werst hin zieht sich, quer durch
Asien zwischen beiden gewaltigen Reichen die Grenze hin. Die Mongolen,
zwischen den Russen und Chinesen wohnend, hatten beide Reiche im 13. Jahr¬
hundert unterjocht, beide warfen später das Joch ab und kamen nun, nachdem
das trennende Mittelglied beseitigt, in Wechselwirkungen, die bis zum heutigen
Tage andauern. Rußland dehnte seine Besitzungen nach Osten, China nach
Westen aus und als sie auseinander stießen, mußten Reibungen zwischen ihnen
entstehen. Damals war China noch im Stande, Rußland Bedingungen auf¬
zuerlegen, wie dies 1689 im Vertrage voll Nertschinsk geschah, ohne daß Ru߬
land jedoch seine weit gehenden Pläne aufgab. Mit der ihm eigenthümlichen Zähig¬
keit und Geduld rückte es allmälig vorwärts. Waffengewalt und diplomatische
Kunstgriffe -- alles wurde angewandt und noch 1860 fielen das Amurland
und die große Küstenprovinz am stillen Ozean bis an die Grenze Korea's
Rußland zu.

Als China zuerst mit Rußland in Grenzstreitigkeiten gerieth, war zunächst
aller Vortheil auf Seiten des Ersteren. China war ein mächtiges Land, das
nur die kriegerischen Mandschu aufzurufen brauchte, um über ein imponiren-
des Heer zu gebieten. Geld war im Ueberfluß vorhanden, weit mehr als in
Nußland; seine Bevölkerung war fleißig, produzirend und somit eine uner¬
schöpfliche Steuerquelle. China handelte vertheidigend, der Kriegsschauplatz lag
seinem heimischen Heerde nahe, seine Regierung war stark und intelligent; Ru߬
land war damals weit zurück und mußte von Moskau aus operiren. Erst
die Fortschritte, die es unter Peter I. und Katharina II. machte, gaben ihm
die Kraft, ebenbürtig gegen China aufzutreten, und Nikolaus und Alexander II.
konnten bereits das Uebergewicht russischer Machtfülle gegen das Blumenreich
der Mitte aufspielen. China war während der Zeit russischer Fortentwickelung
in Stillstand verfallen und hatte im englischen Opinmkriege 1840 den ersten
empfindlichen Stoß von Außen erhalten. Die verkommenen Mandschukaiser
hatten die Tugenden ihrer Väter ganz vergessen, waren in Sinnlichkeit unter¬
gegangen, und China war durch den Verfall seines Militärwesens während
einer langen Friedenszeit in eine hilflose Lage gerathen. Rußland's Ueberge¬
wicht dagegen stieg mit dem Aufschwünge seiner militärischen Organisation;
seine fortwährenden Kämpfe in Europa wiesen es auf die Ausbildung seiner
Armee hin und die Eroberungskriege in Asien verlangten Truppen in großer
Zahl. So stand es mächtig an China's Grenze, als dieses Land unter inneren
Revolutionen erzitterte, als auf die Taiping's die mohammedanischen Aufstände
folgten und das Reich Tau unter Kaiser Soliman, dann Ostturkestan unter
Jaknb Beg als selbständige Staaten abfielen.


Grenzboten IV. 1S78. 13

schon wiederholt gekämpft hat. China ist so zu sagen der „längste" Grenz-
uachbar Rußland's, denn auf tausende von Werst hin zieht sich, quer durch
Asien zwischen beiden gewaltigen Reichen die Grenze hin. Die Mongolen,
zwischen den Russen und Chinesen wohnend, hatten beide Reiche im 13. Jahr¬
hundert unterjocht, beide warfen später das Joch ab und kamen nun, nachdem
das trennende Mittelglied beseitigt, in Wechselwirkungen, die bis zum heutigen
Tage andauern. Rußland dehnte seine Besitzungen nach Osten, China nach
Westen aus und als sie auseinander stießen, mußten Reibungen zwischen ihnen
entstehen. Damals war China noch im Stande, Rußland Bedingungen auf¬
zuerlegen, wie dies 1689 im Vertrage voll Nertschinsk geschah, ohne daß Ru߬
land jedoch seine weit gehenden Pläne aufgab. Mit der ihm eigenthümlichen Zähig¬
keit und Geduld rückte es allmälig vorwärts. Waffengewalt und diplomatische
Kunstgriffe — alles wurde angewandt und noch 1860 fielen das Amurland
und die große Küstenprovinz am stillen Ozean bis an die Grenze Korea's
Rußland zu.

Als China zuerst mit Rußland in Grenzstreitigkeiten gerieth, war zunächst
aller Vortheil auf Seiten des Ersteren. China war ein mächtiges Land, das
nur die kriegerischen Mandschu aufzurufen brauchte, um über ein imponiren-
des Heer zu gebieten. Geld war im Ueberfluß vorhanden, weit mehr als in
Nußland; seine Bevölkerung war fleißig, produzirend und somit eine uner¬
schöpfliche Steuerquelle. China handelte vertheidigend, der Kriegsschauplatz lag
seinem heimischen Heerde nahe, seine Regierung war stark und intelligent; Ru߬
land war damals weit zurück und mußte von Moskau aus operiren. Erst
die Fortschritte, die es unter Peter I. und Katharina II. machte, gaben ihm
die Kraft, ebenbürtig gegen China aufzutreten, und Nikolaus und Alexander II.
konnten bereits das Uebergewicht russischer Machtfülle gegen das Blumenreich
der Mitte aufspielen. China war während der Zeit russischer Fortentwickelung
in Stillstand verfallen und hatte im englischen Opinmkriege 1840 den ersten
empfindlichen Stoß von Außen erhalten. Die verkommenen Mandschukaiser
hatten die Tugenden ihrer Väter ganz vergessen, waren in Sinnlichkeit unter¬
gegangen, und China war durch den Verfall seines Militärwesens während
einer langen Friedenszeit in eine hilflose Lage gerathen. Rußland's Ueberge¬
wicht dagegen stieg mit dem Aufschwünge seiner militärischen Organisation;
seine fortwährenden Kämpfe in Europa wiesen es auf die Ausbildung seiner
Armee hin und die Eroberungskriege in Asien verlangten Truppen in großer
Zahl. So stand es mächtig an China's Grenze, als dieses Land unter inneren
Revolutionen erzitterte, als auf die Taiping's die mohammedanischen Aufstände
folgten und das Reich Tau unter Kaiser Soliman, dann Ostturkestan unter
Jaknb Beg als selbständige Staaten abfielen.


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[0141] schon wiederholt gekämpft hat. China ist so zu sagen der „längste" Grenz- uachbar Rußland's, denn auf tausende von Werst hin zieht sich, quer durch Asien zwischen beiden gewaltigen Reichen die Grenze hin. Die Mongolen, zwischen den Russen und Chinesen wohnend, hatten beide Reiche im 13. Jahr¬ hundert unterjocht, beide warfen später das Joch ab und kamen nun, nachdem das trennende Mittelglied beseitigt, in Wechselwirkungen, die bis zum heutigen Tage andauern. Rußland dehnte seine Besitzungen nach Osten, China nach Westen aus und als sie auseinander stießen, mußten Reibungen zwischen ihnen entstehen. Damals war China noch im Stande, Rußland Bedingungen auf¬ zuerlegen, wie dies 1689 im Vertrage voll Nertschinsk geschah, ohne daß Ru߬ land jedoch seine weit gehenden Pläne aufgab. Mit der ihm eigenthümlichen Zähig¬ keit und Geduld rückte es allmälig vorwärts. Waffengewalt und diplomatische Kunstgriffe — alles wurde angewandt und noch 1860 fielen das Amurland und die große Küstenprovinz am stillen Ozean bis an die Grenze Korea's Rußland zu. Als China zuerst mit Rußland in Grenzstreitigkeiten gerieth, war zunächst aller Vortheil auf Seiten des Ersteren. China war ein mächtiges Land, das nur die kriegerischen Mandschu aufzurufen brauchte, um über ein imponiren- des Heer zu gebieten. Geld war im Ueberfluß vorhanden, weit mehr als in Nußland; seine Bevölkerung war fleißig, produzirend und somit eine uner¬ schöpfliche Steuerquelle. China handelte vertheidigend, der Kriegsschauplatz lag seinem heimischen Heerde nahe, seine Regierung war stark und intelligent; Ru߬ land war damals weit zurück und mußte von Moskau aus operiren. Erst die Fortschritte, die es unter Peter I. und Katharina II. machte, gaben ihm die Kraft, ebenbürtig gegen China aufzutreten, und Nikolaus und Alexander II. konnten bereits das Uebergewicht russischer Machtfülle gegen das Blumenreich der Mitte aufspielen. China war während der Zeit russischer Fortentwickelung in Stillstand verfallen und hatte im englischen Opinmkriege 1840 den ersten empfindlichen Stoß von Außen erhalten. Die verkommenen Mandschukaiser hatten die Tugenden ihrer Väter ganz vergessen, waren in Sinnlichkeit unter¬ gegangen, und China war durch den Verfall seines Militärwesens während einer langen Friedenszeit in eine hilflose Lage gerathen. Rußland's Ueberge¬ wicht dagegen stieg mit dem Aufschwünge seiner militärischen Organisation; seine fortwährenden Kämpfe in Europa wiesen es auf die Ausbildung seiner Armee hin und die Eroberungskriege in Asien verlangten Truppen in großer Zahl. So stand es mächtig an China's Grenze, als dieses Land unter inneren Revolutionen erzitterte, als auf die Taiping's die mohammedanischen Aufstände folgten und das Reich Tau unter Kaiser Soliman, dann Ostturkestan unter Jaknb Beg als selbständige Staaten abfielen. Grenzboten IV. 1S78. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/141>, abgerufen am 15.05.2024.