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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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In dieser Zeit war es auch, daß Rußland 1871 einen ursprünglich zu
China gehörigen Distrikt, den von Kuldsche oder Ili, an sich riß, und um diesen
handelt es sich jetzt. China, das bisher nur in London und Berlin europäische
Gesandtschaften unterhielt, hat jetzt auch einen Gesandten für Se. Petersburg
ernannt, und die Aufgabe dieses Diplomaten wird es sein, Kuldsche von
Rußland zurückzuverlangen.

Die wichtige Frage, welche die zwei größten Kaiserreiche in Konflikt bringen
muß, wird in Europa noch wenig verstanden, da es sich hier in der That um
sehr verwickelte innerasiatische Verhältnisse handelt. Die Sache spielt auf einem
äußerst entfernten Schauplatz, zieht sich durch ein Jahrzehnt hin, und es treten
dabei Personen und Völkerschaften auf, die selbst Politikern von Fach höchstens
dem Namen nach bekannt sind. Wir müssen daher, um den Leser zu orientiren,
einigermaßen ausgreifen.

Die Revolution der Taiping's, welche das ohnehin morsche Staatsgebäude
China's schon bedeutend unterwühlt hatte, mußte auch anderen nichtbnddhistischen
Unterthanen des chinesischen Kaisers als Ermunterung zum Aufstande dienen.
In den Provinzen Kan-su, Schen-si gibt es kaum einen Ort von Bedeutung,
wo die Mohammedaner nicht als besitzende und intelligente Leute eine wichtige
Rolle spielten, und obwohl China durch seine besondere Toleranz sich aus¬
zeichnet und die Moslem gewiß nie in Glaubenssachen beeinträchtigt hat, so
traten doch die heißblütigen mohammedanischen Fanatiker gegen ihre schweine¬
fleischessenden chinesischen Herren auf. Im Jahre 1855 begannen die Moham¬
medaner Jünnan's ihren Unabhängigkeitskampf, welcher zur Gründung des
ephemeren Reichs Tau führte, und bald standen auch ihre Brüder in Schen-si
und Kan-su in Waffen. Letztere, die den Namen Dung alten führen, brachen
im Jahre 1864 wie auf ein gegebenes Zeichen in den Städten Urumtschi,
Turfan, Kara-Schehr und Kutscha los, metzelten die chinesischen Machthaber
nieder und proklamirten die mohammedanische Herrschaft. Daß dieser Aufstand
nur infolge einer Ansteckung von dem östlichen Kan-su und Schen-si aus insze-
nirt werden konnte, ist zweifellos, trotzdem wir über die Einzelheiten der dor¬
tigen Vorgänge in gänzlicher Ungewißheit sind. Nichts konnte den erregten
Wogen dunganischer Religivnswuth widerstehen und in erstaunlich kurzer Zeit
hatten sie die Herrschaft in dem Gebiete entlang dem Tian-Schan-Gebirge bis
zu den "Sechsstädten" an sich gerissen.

Gleichzeitig war weiter im Westen, in Ostturkestan, ein glücklicher Aben¬
teurer aus Kotau, Jakub Kuschbegi, aufgetreten, der dort das mohammedanische
Reich Kaschgar gründete und der Herrschaft der Chinesen auch in dieser Gegend
ein Eude bereitete. So bestanden denn hier zwei mohammedanische, aus dem


In dieser Zeit war es auch, daß Rußland 1871 einen ursprünglich zu
China gehörigen Distrikt, den von Kuldsche oder Ili, an sich riß, und um diesen
handelt es sich jetzt. China, das bisher nur in London und Berlin europäische
Gesandtschaften unterhielt, hat jetzt auch einen Gesandten für Se. Petersburg
ernannt, und die Aufgabe dieses Diplomaten wird es sein, Kuldsche von
Rußland zurückzuverlangen.

Die wichtige Frage, welche die zwei größten Kaiserreiche in Konflikt bringen
muß, wird in Europa noch wenig verstanden, da es sich hier in der That um
sehr verwickelte innerasiatische Verhältnisse handelt. Die Sache spielt auf einem
äußerst entfernten Schauplatz, zieht sich durch ein Jahrzehnt hin, und es treten
dabei Personen und Völkerschaften auf, die selbst Politikern von Fach höchstens
dem Namen nach bekannt sind. Wir müssen daher, um den Leser zu orientiren,
einigermaßen ausgreifen.

Die Revolution der Taiping's, welche das ohnehin morsche Staatsgebäude
China's schon bedeutend unterwühlt hatte, mußte auch anderen nichtbnddhistischen
Unterthanen des chinesischen Kaisers als Ermunterung zum Aufstande dienen.
In den Provinzen Kan-su, Schen-si gibt es kaum einen Ort von Bedeutung,
wo die Mohammedaner nicht als besitzende und intelligente Leute eine wichtige
Rolle spielten, und obwohl China durch seine besondere Toleranz sich aus¬
zeichnet und die Moslem gewiß nie in Glaubenssachen beeinträchtigt hat, so
traten doch die heißblütigen mohammedanischen Fanatiker gegen ihre schweine¬
fleischessenden chinesischen Herren auf. Im Jahre 1855 begannen die Moham¬
medaner Jünnan's ihren Unabhängigkeitskampf, welcher zur Gründung des
ephemeren Reichs Tau führte, und bald standen auch ihre Brüder in Schen-si
und Kan-su in Waffen. Letztere, die den Namen Dung alten führen, brachen
im Jahre 1864 wie auf ein gegebenes Zeichen in den Städten Urumtschi,
Turfan, Kara-Schehr und Kutscha los, metzelten die chinesischen Machthaber
nieder und proklamirten die mohammedanische Herrschaft. Daß dieser Aufstand
nur infolge einer Ansteckung von dem östlichen Kan-su und Schen-si aus insze-
nirt werden konnte, ist zweifellos, trotzdem wir über die Einzelheiten der dor¬
tigen Vorgänge in gänzlicher Ungewißheit sind. Nichts konnte den erregten
Wogen dunganischer Religivnswuth widerstehen und in erstaunlich kurzer Zeit
hatten sie die Herrschaft in dem Gebiete entlang dem Tian-Schan-Gebirge bis
zu den „Sechsstädten" an sich gerissen.

Gleichzeitig war weiter im Westen, in Ostturkestan, ein glücklicher Aben¬
teurer aus Kotau, Jakub Kuschbegi, aufgetreten, der dort das mohammedanische
Reich Kaschgar gründete und der Herrschaft der Chinesen auch in dieser Gegend
ein Eude bereitete. So bestanden denn hier zwei mohammedanische, aus dem


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[0142] In dieser Zeit war es auch, daß Rußland 1871 einen ursprünglich zu China gehörigen Distrikt, den von Kuldsche oder Ili, an sich riß, und um diesen handelt es sich jetzt. China, das bisher nur in London und Berlin europäische Gesandtschaften unterhielt, hat jetzt auch einen Gesandten für Se. Petersburg ernannt, und die Aufgabe dieses Diplomaten wird es sein, Kuldsche von Rußland zurückzuverlangen. Die wichtige Frage, welche die zwei größten Kaiserreiche in Konflikt bringen muß, wird in Europa noch wenig verstanden, da es sich hier in der That um sehr verwickelte innerasiatische Verhältnisse handelt. Die Sache spielt auf einem äußerst entfernten Schauplatz, zieht sich durch ein Jahrzehnt hin, und es treten dabei Personen und Völkerschaften auf, die selbst Politikern von Fach höchstens dem Namen nach bekannt sind. Wir müssen daher, um den Leser zu orientiren, einigermaßen ausgreifen. Die Revolution der Taiping's, welche das ohnehin morsche Staatsgebäude China's schon bedeutend unterwühlt hatte, mußte auch anderen nichtbnddhistischen Unterthanen des chinesischen Kaisers als Ermunterung zum Aufstande dienen. In den Provinzen Kan-su, Schen-si gibt es kaum einen Ort von Bedeutung, wo die Mohammedaner nicht als besitzende und intelligente Leute eine wichtige Rolle spielten, und obwohl China durch seine besondere Toleranz sich aus¬ zeichnet und die Moslem gewiß nie in Glaubenssachen beeinträchtigt hat, so traten doch die heißblütigen mohammedanischen Fanatiker gegen ihre schweine¬ fleischessenden chinesischen Herren auf. Im Jahre 1855 begannen die Moham¬ medaner Jünnan's ihren Unabhängigkeitskampf, welcher zur Gründung des ephemeren Reichs Tau führte, und bald standen auch ihre Brüder in Schen-si und Kan-su in Waffen. Letztere, die den Namen Dung alten führen, brachen im Jahre 1864 wie auf ein gegebenes Zeichen in den Städten Urumtschi, Turfan, Kara-Schehr und Kutscha los, metzelten die chinesischen Machthaber nieder und proklamirten die mohammedanische Herrschaft. Daß dieser Aufstand nur infolge einer Ansteckung von dem östlichen Kan-su und Schen-si aus insze- nirt werden konnte, ist zweifellos, trotzdem wir über die Einzelheiten der dor¬ tigen Vorgänge in gänzlicher Ungewißheit sind. Nichts konnte den erregten Wogen dunganischer Religivnswuth widerstehen und in erstaunlich kurzer Zeit hatten sie die Herrschaft in dem Gebiete entlang dem Tian-Schan-Gebirge bis zu den „Sechsstädten" an sich gerissen. Gleichzeitig war weiter im Westen, in Ostturkestan, ein glücklicher Aben¬ teurer aus Kotau, Jakub Kuschbegi, aufgetreten, der dort das mohammedanische Reich Kaschgar gründete und der Herrschaft der Chinesen auch in dieser Gegend ein Eude bereitete. So bestanden denn hier zwei mohammedanische, aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/142>, abgerufen am 29.05.2024.