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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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bieten des Sirdars die einzige noch mögliche Aussicht auf Fristung des Lebens."
Unter der Zahl der also Geretteten befand sich auch der Berichterstatter; ehe
wir zu ihnen zurückkehren, möge zunächst die Leidensgeschichte der Uebrigen zu
Ende geführt werden.

Sobald am Morgen des 10. Januar das Zeichen zum Aufbruch gegeben
worden war, stürzten sich Alle in wahnsinniger Hast und größter Unordnung
vorwärts; Jeder besorgte, der Letzte zu bleiben oder zurückgelassen zu werden.
Die Wenigen, welche noch einige Selbstbeherrschung und einen Rest von phy¬
sischer Spannkraft besaßen, waren Europäer; den Jndiern waren Hände und
Füße erfroren; die ungewohnte Kälte und das Uebermaß der Leiden hatten
auf den Seelenzustand Vieler die Wirkung, daß sie den Verstand verloren.
Als der Vortrab in einen Hohlweg einrückte, ließen ihn die Afghanen auf
Schußweite herankommen und gaben dann auf die dichtgedrängte Masse ein
so wüthendes Schnellfeuer, daß schon nach wenigen Minuten die Schlucht von
Todten vollgepfropft war und die nachrückenden nur mit Mühe über die
Haufen von Leichen und Verwundeten hinweg konnten. Diejenigen Jndier,
welche noch Waffen trugen, warfen sie weg und eilten vorwärts, der Troß
sprengte in wilder Flucht nach allen Seiten auseinander. Nun stiegen die
Afghanen mit dem Säbel in der Faust von den Höhen herab und machten
in einem scheußlichen Gemetzel nieder was ihnen vor die Klinge kam. In
diesem wurde der Rest der indischen Truppen aufgerieben. Und als die Eng¬
länder, welche sich durchgeschlagen hatten, nach einiger Zeit Halt machten, ge¬
wahrten sie zu ihrem Entsetzen, daß sie als die einzigen elenden Trümmer von
der ganzen waffenfähigen Mannschaft noch übrig waren, fünfzig Artilleristen
und einhundertundfünfzig Berittene! Unter ihnen befand sich Elphinstone. In
diesem Augenblicke rückte ein Haufen Afghanen unter Mohamed Akbar's per¬
sönlicher Führung heran, der dem zum Parlcunentiren abgeschickten Hauptmann
Skinner zu verstehen gab, daß er außer Stande sei, die Ghilzis im Zaume
zu halten, und zu gleicher Zeit verlangte, daß das Häuflein von 200 Mann
die Waffen streckte, in welchem Falle ihnen sicheres Geleit bis Jellalabad in
Aussicht gestellt werden könnte. Hingegen müßten die vom Gefolge noch
Uebrigen schlechterdings ihrem Schicksale überlassen werden. Statt jeder Ant¬
wort auf dieses Ansinnen gab Elphinstone den Befehl, den Marsch fortzusetzen.
Im nächsten Engpasse fielen wieder fünfzehn Offiziere, und wurde das letzte
Geschütz, das einem daraufgebundenen Arzte als Wagen gedient hatte, sammt
dem Letzteren dem Feinde preisgegeben. Die letzten, bis dahin noch aufge¬
sparten Zugochsen wurden am folgenden Tage geschlachtet, das rohe Fleisch
wie es war mit Heißhunger verschlungen. An diesem Tage lud War den
englischen Befehlshaber zu einer abermaligen Besprechung zu sich ein und


bieten des Sirdars die einzige noch mögliche Aussicht auf Fristung des Lebens."
Unter der Zahl der also Geretteten befand sich auch der Berichterstatter; ehe
wir zu ihnen zurückkehren, möge zunächst die Leidensgeschichte der Uebrigen zu
Ende geführt werden.

Sobald am Morgen des 10. Januar das Zeichen zum Aufbruch gegeben
worden war, stürzten sich Alle in wahnsinniger Hast und größter Unordnung
vorwärts; Jeder besorgte, der Letzte zu bleiben oder zurückgelassen zu werden.
Die Wenigen, welche noch einige Selbstbeherrschung und einen Rest von phy¬
sischer Spannkraft besaßen, waren Europäer; den Jndiern waren Hände und
Füße erfroren; die ungewohnte Kälte und das Uebermaß der Leiden hatten
auf den Seelenzustand Vieler die Wirkung, daß sie den Verstand verloren.
Als der Vortrab in einen Hohlweg einrückte, ließen ihn die Afghanen auf
Schußweite herankommen und gaben dann auf die dichtgedrängte Masse ein
so wüthendes Schnellfeuer, daß schon nach wenigen Minuten die Schlucht von
Todten vollgepfropft war und die nachrückenden nur mit Mühe über die
Haufen von Leichen und Verwundeten hinweg konnten. Diejenigen Jndier,
welche noch Waffen trugen, warfen sie weg und eilten vorwärts, der Troß
sprengte in wilder Flucht nach allen Seiten auseinander. Nun stiegen die
Afghanen mit dem Säbel in der Faust von den Höhen herab und machten
in einem scheußlichen Gemetzel nieder was ihnen vor die Klinge kam. In
diesem wurde der Rest der indischen Truppen aufgerieben. Und als die Eng¬
länder, welche sich durchgeschlagen hatten, nach einiger Zeit Halt machten, ge¬
wahrten sie zu ihrem Entsetzen, daß sie als die einzigen elenden Trümmer von
der ganzen waffenfähigen Mannschaft noch übrig waren, fünfzig Artilleristen
und einhundertundfünfzig Berittene! Unter ihnen befand sich Elphinstone. In
diesem Augenblicke rückte ein Haufen Afghanen unter Mohamed Akbar's per¬
sönlicher Führung heran, der dem zum Parlcunentiren abgeschickten Hauptmann
Skinner zu verstehen gab, daß er außer Stande sei, die Ghilzis im Zaume
zu halten, und zu gleicher Zeit verlangte, daß das Häuflein von 200 Mann
die Waffen streckte, in welchem Falle ihnen sicheres Geleit bis Jellalabad in
Aussicht gestellt werden könnte. Hingegen müßten die vom Gefolge noch
Uebrigen schlechterdings ihrem Schicksale überlassen werden. Statt jeder Ant¬
wort auf dieses Ansinnen gab Elphinstone den Befehl, den Marsch fortzusetzen.
Im nächsten Engpasse fielen wieder fünfzehn Offiziere, und wurde das letzte
Geschütz, das einem daraufgebundenen Arzte als Wagen gedient hatte, sammt
dem Letzteren dem Feinde preisgegeben. Die letzten, bis dahin noch aufge¬
sparten Zugochsen wurden am folgenden Tage geschlachtet, das rohe Fleisch
wie es war mit Heißhunger verschlungen. An diesem Tage lud War den
englischen Befehlshaber zu einer abermaligen Besprechung zu sich ein und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/422>, abgerufen am 15.05.2024.