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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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säuertes Gerstenbrot, wird ihr hinaufgeschickt. Bleibt das Kind am Leben, so
wird es vom russischen Popen getauft, erhält aber alte Chewsuren-Namen; die
Knaben: Löwe, Wolf, Panther, Bär; die Mädchen: Sonnchen, Rose, Zitzchen,
Perlchen, Schatz. Schon in der Wiege werden durch die Eltern Ehebündnisse
geschlossen, doch wird die Ehe nicht vor dem 20. Jahre des Mädchens ge¬
schlossen, und es gilt für eine große Schande, wenn dem jungen Paare vor
Ablauf der ersten vier Jahre ein Kind geboren wird. Daher sind die Ehen
der Chewsuren sehr kinderarm. Die Zeremonie der Trauung findet am hei¬
mathlichen Feuerherde statt und sie ist dadurch interessant, daß der Priester
die Kleider des jungen Paares mittelst einer Nadel zusammensteckt oder mit
einem Faden aneinanderheftet. Selbst nach geschlossener Ehe bleibt das Ver¬
hältniß des Mannes zur Frau in der ersten Zeit ein geheimnißvolles, und es
gilt für eine Schande, wenn der Mann seine Frau öffentlich liebkost oder mit
ihr spricht. Ist das Weib mit dem Manne nicht zufrieden, so kann es ihn
wohl verlassen, aber der Mann muß entschädigt werden. Das Maximum dieses
Loskaufpreises beläuft sich auf 80 Rubel, die aber in Rindvieh bezahlt werden.
Eine dem Manne losgekaufte Frau kann wieder heirathen. Untreue der Frau
wurde früher durch Ohren- und Nasenabschneiden bestraft, und Radde sah noch
im Dorfe Blo in dieser Weise verstümmelte Frauen.

Da der Chewsure (wie viele Naturvölker) glaubt, daß die Leiche das Haus
verunreinige, so wird der Sterbende in's Freie gebracht, um dort den Geist
aufzugeben. Dann kommt der Klageweiber Schaar, und das dramatische Leichen¬
gespräch beginnt, wobei der in seinen Kettenpanzer gehüllte Todte unter Anderem
folgendermaßen angeredet wird:


Du schweigst noch? So soll Dein Siegesrnfen
Verstummen zu des Gegners eigner Freud'?
Steh Held der Helden auf! es rostet sonst Dein Schild,
Erblinden will die Schneide Deines Schwertes:
Und das zur Freude Deiner eignen Feinde!
O, laß noch einmal Deine Stimm' erschallen,
Die einst erschütterte die Felsenwände
Und in die Flucht vertrieb der Kisten Schaar.
Steh auf! Steh auf! und wie der Asche gleich
Verwehe ihren Sitz von dieser Erde.
O Gott! Er hört uns nicht und gibt uns keine Antwort.

Echt ritterlich folgt das Pferd des Hingegangenen im Trauerzuge. Die
Beisetzung erfolgt in Steingräber; alle Gleichnamigen werden in ein und das¬
selbe Grab gelegt, die Leichen kommen im Laufe der Zeit übereinander zu
liegen, und zwar schaufelt man die alten Knochen auf die neuen Leichen.

Eine Betrachtung der religiösen Verhältnisse dieses Völkchens zeigt es uns
nominell als Christen, indessen mit mohammedanischen und heidnischen Bei-


säuertes Gerstenbrot, wird ihr hinaufgeschickt. Bleibt das Kind am Leben, so
wird es vom russischen Popen getauft, erhält aber alte Chewsuren-Namen; die
Knaben: Löwe, Wolf, Panther, Bär; die Mädchen: Sonnchen, Rose, Zitzchen,
Perlchen, Schatz. Schon in der Wiege werden durch die Eltern Ehebündnisse
geschlossen, doch wird die Ehe nicht vor dem 20. Jahre des Mädchens ge¬
schlossen, und es gilt für eine große Schande, wenn dem jungen Paare vor
Ablauf der ersten vier Jahre ein Kind geboren wird. Daher sind die Ehen
der Chewsuren sehr kinderarm. Die Zeremonie der Trauung findet am hei¬
mathlichen Feuerherde statt und sie ist dadurch interessant, daß der Priester
die Kleider des jungen Paares mittelst einer Nadel zusammensteckt oder mit
einem Faden aneinanderheftet. Selbst nach geschlossener Ehe bleibt das Ver¬
hältniß des Mannes zur Frau in der ersten Zeit ein geheimnißvolles, und es
gilt für eine Schande, wenn der Mann seine Frau öffentlich liebkost oder mit
ihr spricht. Ist das Weib mit dem Manne nicht zufrieden, so kann es ihn
wohl verlassen, aber der Mann muß entschädigt werden. Das Maximum dieses
Loskaufpreises beläuft sich auf 80 Rubel, die aber in Rindvieh bezahlt werden.
Eine dem Manne losgekaufte Frau kann wieder heirathen. Untreue der Frau
wurde früher durch Ohren- und Nasenabschneiden bestraft, und Radde sah noch
im Dorfe Blo in dieser Weise verstümmelte Frauen.

Da der Chewsure (wie viele Naturvölker) glaubt, daß die Leiche das Haus
verunreinige, so wird der Sterbende in's Freie gebracht, um dort den Geist
aufzugeben. Dann kommt der Klageweiber Schaar, und das dramatische Leichen¬
gespräch beginnt, wobei der in seinen Kettenpanzer gehüllte Todte unter Anderem
folgendermaßen angeredet wird:


Du schweigst noch? So soll Dein Siegesrnfen
Verstummen zu des Gegners eigner Freud'?
Steh Held der Helden auf! es rostet sonst Dein Schild,
Erblinden will die Schneide Deines Schwertes:
Und das zur Freude Deiner eignen Feinde!
O, laß noch einmal Deine Stimm' erschallen,
Die einst erschütterte die Felsenwände
Und in die Flucht vertrieb der Kisten Schaar.
Steh auf! Steh auf! und wie der Asche gleich
Verwehe ihren Sitz von dieser Erde.
O Gott! Er hört uns nicht und gibt uns keine Antwort.

Echt ritterlich folgt das Pferd des Hingegangenen im Trauerzuge. Die
Beisetzung erfolgt in Steingräber; alle Gleichnamigen werden in ein und das¬
selbe Grab gelegt, die Leichen kommen im Laufe der Zeit übereinander zu
liegen, und zwar schaufelt man die alten Knochen auf die neuen Leichen.

Eine Betrachtung der religiösen Verhältnisse dieses Völkchens zeigt es uns
nominell als Christen, indessen mit mohammedanischen und heidnischen Bei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/475>, abgerufen am 04.06.2024.