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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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ist es, wozu wir uns bisher aus allerhand Bedenklichkeiten nicht entschlossen
haben, und worin uns der Franzose wieder einmal den Rang abläuft.

Mehr als einmal hat Goethe selber es ausgesprochen, daß seine Gedichte
"Gelegenheitsgedichte" seien in dem tieferen Sinne, daß all' sein dichterisches
Schaffen von etwas in der Wirklichkeit gegebenem ausging, daß seine Poesie
nur dasjenige, künstlerisch gestaltet, gesteigert und geläutert, darstellte, wozu be¬
stimmte äußere Anlässe, bestimmte Lebensereignisse ihn drängten. Und wenn
auch natürlich ein Goethe'sches Gedicht, wie jedes echte Kunstwerk, zu genießen
ist von dem, der nichts davon weiß, wann und unter welchen Umständen der
Dichter es geschaffen, welche Erlebnisse er darin dargestellt hat, so wird doch
ein tieferes Verständniß seiner Dichtungen nur dem ermöglicht sein, der in die
Verflechtung zwischen Poesie und Leben, die bei keinem Dichter eine so innige
war wie bei ihm, sich klare Einsicht verschafft hat. Diesen Beziehungen bei
jedem einzelnen Gedichte nachzuspüren ist, wenn es in der Anordnung geschieht,
in der Goethe selber später seiue Gedichte nach allerhand stofflichen Gesichts¬
punkten geordnet hat, ein unerquickliches und vergebliches Bemühen, bei welchem
nichts als eine Unmasse vereinzelter Thatsachen gewonnen wird, die mit der
Zeit wohl oder übel sich zu einem Gesammtbilde fügen werden, aber freilich
zu einem Bilde, das überall wahrheitswidrig verwirrt und verzerrt sein muß.
Nur wer die künstlichen Gedichtgruppen Goethe's wieder auflöst und die
einzelnen Gedichte in ihre ursprüngliche Reihenfolge bringt, nur der kann
hoffen, das mit der Zeit ein richtiges und deutliches Bild des Dichters vor
seinem geistigen Auge erstehen wird.

Vollständig hat sich die chronologische Folge freilich nicht durchführen
lassen und wird sich auch nie durchführe!: lassen. Wenn auch unter den "Ge¬
dichten" Goethe's der Fall selten vorkommen dürfte, der sofort einträte, wenn
man Dichtungen von größerem Umfange mit berücksichtigen wollte, daß ihnen
nämlich kaum ein bestimmter Platz in der Zeitfolge anzuweisen ist, weil die
Arbeit des Dichters an ihnen sich auf Jahre erstreckt und vertheilt, so nöthigen
doch andre Ursachen bisweilen dazu, auf die chronologische Folge zu Gunsten
einer mehr stofflichen oder formalen Gruppirung zu verzichten. Lichtenberger
hat denn auch beide Eiutheilungsprinzipien mit einander verbunden. Er
sagt darüber im Vorwort: "Meine Darstellung sucht die Gedichte Goethe's
durch sein Leben, und sein Leben durch seine Gedichte zu erklären. Zu gleicher
Zeit betrachtet sie diese Gedichte an sich und befragt sie um das Geheimniß
ihrer Schönheit. Dieser doppelte Zweck erschwert auf den ersten Blick die
Wahl des zu befolgenden Planes. Wenn die Gedichte das Leben und die
Empfindungen Goethe's ausheilen sollen, so ist die chronologische Anordnung
gebieterisch gefordert: die verschiedenen Perioden seines Lebens bilden die natur-


ist es, wozu wir uns bisher aus allerhand Bedenklichkeiten nicht entschlossen
haben, und worin uns der Franzose wieder einmal den Rang abläuft.

Mehr als einmal hat Goethe selber es ausgesprochen, daß seine Gedichte
„Gelegenheitsgedichte" seien in dem tieferen Sinne, daß all' sein dichterisches
Schaffen von etwas in der Wirklichkeit gegebenem ausging, daß seine Poesie
nur dasjenige, künstlerisch gestaltet, gesteigert und geläutert, darstellte, wozu be¬
stimmte äußere Anlässe, bestimmte Lebensereignisse ihn drängten. Und wenn
auch natürlich ein Goethe'sches Gedicht, wie jedes echte Kunstwerk, zu genießen
ist von dem, der nichts davon weiß, wann und unter welchen Umständen der
Dichter es geschaffen, welche Erlebnisse er darin dargestellt hat, so wird doch
ein tieferes Verständniß seiner Dichtungen nur dem ermöglicht sein, der in die
Verflechtung zwischen Poesie und Leben, die bei keinem Dichter eine so innige
war wie bei ihm, sich klare Einsicht verschafft hat. Diesen Beziehungen bei
jedem einzelnen Gedichte nachzuspüren ist, wenn es in der Anordnung geschieht,
in der Goethe selber später seiue Gedichte nach allerhand stofflichen Gesichts¬
punkten geordnet hat, ein unerquickliches und vergebliches Bemühen, bei welchem
nichts als eine Unmasse vereinzelter Thatsachen gewonnen wird, die mit der
Zeit wohl oder übel sich zu einem Gesammtbilde fügen werden, aber freilich
zu einem Bilde, das überall wahrheitswidrig verwirrt und verzerrt sein muß.
Nur wer die künstlichen Gedichtgruppen Goethe's wieder auflöst und die
einzelnen Gedichte in ihre ursprüngliche Reihenfolge bringt, nur der kann
hoffen, das mit der Zeit ein richtiges und deutliches Bild des Dichters vor
seinem geistigen Auge erstehen wird.

Vollständig hat sich die chronologische Folge freilich nicht durchführen
lassen und wird sich auch nie durchführe!: lassen. Wenn auch unter den „Ge¬
dichten" Goethe's der Fall selten vorkommen dürfte, der sofort einträte, wenn
man Dichtungen von größerem Umfange mit berücksichtigen wollte, daß ihnen
nämlich kaum ein bestimmter Platz in der Zeitfolge anzuweisen ist, weil die
Arbeit des Dichters an ihnen sich auf Jahre erstreckt und vertheilt, so nöthigen
doch andre Ursachen bisweilen dazu, auf die chronologische Folge zu Gunsten
einer mehr stofflichen oder formalen Gruppirung zu verzichten. Lichtenberger
hat denn auch beide Eiutheilungsprinzipien mit einander verbunden. Er
sagt darüber im Vorwort: „Meine Darstellung sucht die Gedichte Goethe's
durch sein Leben, und sein Leben durch seine Gedichte zu erklären. Zu gleicher
Zeit betrachtet sie diese Gedichte an sich und befragt sie um das Geheimniß
ihrer Schönheit. Dieser doppelte Zweck erschwert auf den ersten Blick die
Wahl des zu befolgenden Planes. Wenn die Gedichte das Leben und die
Empfindungen Goethe's ausheilen sollen, so ist die chronologische Anordnung
gebieterisch gefordert: die verschiedenen Perioden seines Lebens bilden die natur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/98>, abgerufen am 29.05.2024.