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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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stimmen. Aber der Vater warf einen solchen Gedanken weit weg, weil er die
Gefahren des damaligen geistlichen Lebens fürchtete. Nicht etwa, daß Hans
Geizkofler -- wie dies von seinem Sohne Lucas bekannt ist -- insgeheim der
lutherischen Lehre angehangen hätte. Für eine solche Annahme fehlen uns alle
Zeugnisse. Nur so viel läßt sich mit Gewißheit sagen, daß er allerdings, wenn
auch nach außen ein Glied der alten Kirche, in seinem Innern bis an seinen
Tod ein Freund der reformatorischen Ideen gewesen ist. Schon während
seiner Studienjahre in Italien hatte er wegen seiner Hinneigung zu den Lehr¬
sätzen des kühnen Wittenberger Mönches manche Anfechtungen von Seiten
seiner Kommilitonen zu erdulden gehabt; nach seiner Rückkehr und Niederlassung
in Sterzing scheint sein Haus einer der Mittelpunkte geworden zu sein, von
denen aus, wenn auch nicht eine Trennung von der alten Kirche, so doch eine
freiere Gestaltung des kirchlichen Lebens angestrebt wurde. Auch in Tyrol
hatte der reformatorische Gedanke zeitig Wurzel gefaßt. Die Träger desselben
waren hier namentlich die zahlreichen fremden Bergknappen, welche der gute
Verdienst aus allen Gegenden Deutschland's dorthin gelockt hatte. Zu Anfang
des sechzehnten Jahrhunderts arbeiteten an 30000 Knappen -- darunter in
Sterzing und Gossensaß allein über 10000 -- in jenem damals noch reichen
und wohlkultivirten Lande, Leute von fröhlichem Gemüth, sangesfreudig und
empfänglich für alles Gute und Schone. Allein nicht blos die Knappschaft,
auch viele Bauern, die Bürger in Klausen, Sterzing, Meran, Kitzbüchel u. a.
zeigten sich der Reformation geneigt. In Sterzing reichte Pfarrer Pfaufer
das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Im Hause des Hans Geizkofler wurde
die deutsche Bibel gelesen, das deutsche Kirchenlied gesungen und mannichfach
über religiöse Gegenstände verhandelt.

Unter diesen Einflüssen wuchs der Knabe Lucas heran. Seinen ersten
Unterricht erhielt er in der Stadtschule zu Sterzing. Von den Zuständen der¬
selben entwirft er uns in seiner Selbstbiographie kein sehr anmuthendes Bild;
viel war, wie es scheint, in der Sterzinger Schule nicht zu lernen. "Mkrasnw
TlÄMios-tiLÄs", das ist der ganze Lehrstoff, den uns Lucas nennt. Dazu kam,
daß die Methode des Unterrichts die denkbar unbehilflichste war. Die Lehr¬
bücher waren überall noch schwer zu erwerben, ein Buch war den Knaben ein
Schatz, und oft schrieben sie den Text selber für sich ab. Noch kläglicher waren
die sozialen Verhältnisse der Schüler. Wo eine lateinische Schule war, bei
einem Stift oder im reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich
die Kinder des Volks, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, ver¬
wildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie
durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die
Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte


stimmen. Aber der Vater warf einen solchen Gedanken weit weg, weil er die
Gefahren des damaligen geistlichen Lebens fürchtete. Nicht etwa, daß Hans
Geizkofler — wie dies von seinem Sohne Lucas bekannt ist — insgeheim der
lutherischen Lehre angehangen hätte. Für eine solche Annahme fehlen uns alle
Zeugnisse. Nur so viel läßt sich mit Gewißheit sagen, daß er allerdings, wenn
auch nach außen ein Glied der alten Kirche, in seinem Innern bis an seinen
Tod ein Freund der reformatorischen Ideen gewesen ist. Schon während
seiner Studienjahre in Italien hatte er wegen seiner Hinneigung zu den Lehr¬
sätzen des kühnen Wittenberger Mönches manche Anfechtungen von Seiten
seiner Kommilitonen zu erdulden gehabt; nach seiner Rückkehr und Niederlassung
in Sterzing scheint sein Haus einer der Mittelpunkte geworden zu sein, von
denen aus, wenn auch nicht eine Trennung von der alten Kirche, so doch eine
freiere Gestaltung des kirchlichen Lebens angestrebt wurde. Auch in Tyrol
hatte der reformatorische Gedanke zeitig Wurzel gefaßt. Die Träger desselben
waren hier namentlich die zahlreichen fremden Bergknappen, welche der gute
Verdienst aus allen Gegenden Deutschland's dorthin gelockt hatte. Zu Anfang
des sechzehnten Jahrhunderts arbeiteten an 30000 Knappen — darunter in
Sterzing und Gossensaß allein über 10000 — in jenem damals noch reichen
und wohlkultivirten Lande, Leute von fröhlichem Gemüth, sangesfreudig und
empfänglich für alles Gute und Schone. Allein nicht blos die Knappschaft,
auch viele Bauern, die Bürger in Klausen, Sterzing, Meran, Kitzbüchel u. a.
zeigten sich der Reformation geneigt. In Sterzing reichte Pfarrer Pfaufer
das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Im Hause des Hans Geizkofler wurde
die deutsche Bibel gelesen, das deutsche Kirchenlied gesungen und mannichfach
über religiöse Gegenstände verhandelt.

Unter diesen Einflüssen wuchs der Knabe Lucas heran. Seinen ersten
Unterricht erhielt er in der Stadtschule zu Sterzing. Von den Zuständen der¬
selben entwirft er uns in seiner Selbstbiographie kein sehr anmuthendes Bild;
viel war, wie es scheint, in der Sterzinger Schule nicht zu lernen. „Mkrasnw
TlÄMios-tiLÄs", das ist der ganze Lehrstoff, den uns Lucas nennt. Dazu kam,
daß die Methode des Unterrichts die denkbar unbehilflichste war. Die Lehr¬
bücher waren überall noch schwer zu erwerben, ein Buch war den Knaben ein
Schatz, und oft schrieben sie den Text selber für sich ab. Noch kläglicher waren
die sozialen Verhältnisse der Schüler. Wo eine lateinische Schule war, bei
einem Stift oder im reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich
die Kinder des Volks, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, ver¬
wildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie
durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die
Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/191>, abgerufen am 15.06.2024.