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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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gestützt haben. Alle Zweige der Heilkunde haben durch die innige Verbindung,
welche dieselbe mit den Naturwissenschaften eingegangen ist, wesentlich gewonnen.
Die Anatomie hat mit Hilfe verbesserter Mikroskope den Bau auch der kleinsten
Körpertheilchen in's rechte Licht gestellt. Die Physiologie hat sich an die Er¬
gebnisse dieser Untersuchungen gemacht und ist mit Benutzung der physikalischen
Wissenschaften dahin gelangt, Lebensvorgänge, die man früher mit der oder
jener geheimnißvollen Triebkraft zu erklären bemüht war, auf chemische und
physikalische Gesetze zurückzuführen. Die Pathologie ist seit allgemeiner Ein¬
führung der Perkussions- und Auskultationskunst um ein höchst werthvolles
Untersuchungsmittel bereichert, das unsern Gesichtskreis erheblich erweitert hat.
Die pathologische Anatomie trägt der praktischen Medizin eine Leuchte voran
und verspricht über das Wesen der Krankheiten noch bedeutsame Aufschlüsse zu
ertheilen. Chirurgie und Geburtshilfe sind durch verbesserte Methoden und
Instrumente, sowie durch geläuterte Anschauungen von den Erkrcmkungs - und
Heilnngsprozessen auf eine Höhe gebracht worden, die man vor Beginn unseres
Jahrhunderts, ganz zu schweigen von früherer Zeit, kaum geahnt hat. Die
Spezialfächer der Medizin, wie Augen- und Ohrenheilkunde, haben sich gleich¬
falls an diesen mächtigen Fortschritten betheiligt. Von der inneren Medizin
gilt Aehnliches: sie baut nicht mehr nosologische Systeme auf, huldigt aber
um so eifriger einer gründlichen und allseitigen Untersuchung der Kranken. Am
wenigsten befriedigt noch der Zustand der Therapie innerer Krankheiten, wo
noch allen Richtungen, selbst den sich geradezu widersprechenden, gehuldigt wird,
und ohne festes Prinzip sowie ohne genügende Unterlagen aus der Erfahrung
die allerverschiedensten Hebel zur Beseitigung körperlicher Uebel angesetzt werden.
Indeß ist, wenn wir den Gang in's Auge fassen, den die medizinische Theorie
und Praxis als Ganzes in unserer Zeit eingeschlagen haben, auch nach dieser
Seite hin Gutes zu hoffen und mit Sicherheit zu erwarten, die Wissenschaft
vom Leben und die Kunst, es zu vertheidigen und zu verlängern, werde in
ihren Leistungen von Jahr zu Jahr mehr den Anforderungen entsprechen, die
wir an sie zu stellen berechtigt sind.

Wie es hiermit sowie mit den übrigen Disziplinen der Heilkunde zur Zeit,
wo unsere Urgroßväter geboren wurden, also etwa um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts und in den unmittelbar vorhergehenden Dezennien stand, soll
im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden.

Das Mittelalter hatte sich in der Medizin, soweit es sie wissenschaftlich
zu treiben bemüht war, fast ausnahmslos an die Araber gehalten, die ihrer¬
seits sich sklavisch an das Dogmengebäude Galen's anlehnten und es nur mit
dialektischen Spitzfindigkeiten aufbauten, welche man damals höher schätzte als
alle Beobachtung. Daneben hatte die hauptsächlich von Mönchen und Nonnen


gestützt haben. Alle Zweige der Heilkunde haben durch die innige Verbindung,
welche dieselbe mit den Naturwissenschaften eingegangen ist, wesentlich gewonnen.
Die Anatomie hat mit Hilfe verbesserter Mikroskope den Bau auch der kleinsten
Körpertheilchen in's rechte Licht gestellt. Die Physiologie hat sich an die Er¬
gebnisse dieser Untersuchungen gemacht und ist mit Benutzung der physikalischen
Wissenschaften dahin gelangt, Lebensvorgänge, die man früher mit der oder
jener geheimnißvollen Triebkraft zu erklären bemüht war, auf chemische und
physikalische Gesetze zurückzuführen. Die Pathologie ist seit allgemeiner Ein¬
führung der Perkussions- und Auskultationskunst um ein höchst werthvolles
Untersuchungsmittel bereichert, das unsern Gesichtskreis erheblich erweitert hat.
Die pathologische Anatomie trägt der praktischen Medizin eine Leuchte voran
und verspricht über das Wesen der Krankheiten noch bedeutsame Aufschlüsse zu
ertheilen. Chirurgie und Geburtshilfe sind durch verbesserte Methoden und
Instrumente, sowie durch geläuterte Anschauungen von den Erkrcmkungs - und
Heilnngsprozessen auf eine Höhe gebracht worden, die man vor Beginn unseres
Jahrhunderts, ganz zu schweigen von früherer Zeit, kaum geahnt hat. Die
Spezialfächer der Medizin, wie Augen- und Ohrenheilkunde, haben sich gleich¬
falls an diesen mächtigen Fortschritten betheiligt. Von der inneren Medizin
gilt Aehnliches: sie baut nicht mehr nosologische Systeme auf, huldigt aber
um so eifriger einer gründlichen und allseitigen Untersuchung der Kranken. Am
wenigsten befriedigt noch der Zustand der Therapie innerer Krankheiten, wo
noch allen Richtungen, selbst den sich geradezu widersprechenden, gehuldigt wird,
und ohne festes Prinzip sowie ohne genügende Unterlagen aus der Erfahrung
die allerverschiedensten Hebel zur Beseitigung körperlicher Uebel angesetzt werden.
Indeß ist, wenn wir den Gang in's Auge fassen, den die medizinische Theorie
und Praxis als Ganzes in unserer Zeit eingeschlagen haben, auch nach dieser
Seite hin Gutes zu hoffen und mit Sicherheit zu erwarten, die Wissenschaft
vom Leben und die Kunst, es zu vertheidigen und zu verlängern, werde in
ihren Leistungen von Jahr zu Jahr mehr den Anforderungen entsprechen, die
wir an sie zu stellen berechtigt sind.

Wie es hiermit sowie mit den übrigen Disziplinen der Heilkunde zur Zeit,
wo unsere Urgroßväter geboren wurden, also etwa um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts und in den unmittelbar vorhergehenden Dezennien stand, soll
im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden.

Das Mittelalter hatte sich in der Medizin, soweit es sie wissenschaftlich
zu treiben bemüht war, fast ausnahmslos an die Araber gehalten, die ihrer¬
seits sich sklavisch an das Dogmengebäude Galen's anlehnten und es nur mit
dialektischen Spitzfindigkeiten aufbauten, welche man damals höher schätzte als
alle Beobachtung. Daneben hatte die hauptsächlich von Mönchen und Nonnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/270>, abgerufen am 21.05.2024.