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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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geübte Heilkunde einen geistlichen Charakter angenommen: der religiöse Glaube
war gewissermaßen Universalmittel, die ärztliche Kunst zu einer christlichen
Magie geworden, die vorzüglich mit den Heilapparaten der Kirche: Gebeten,
Beschwörungen und Weihwasser operirte. So folgte die mittelalterliche Medizin
einerseits der trostlosesten Verstandesrichtung, während sie andererseits von dem
Glauben an Wunder und die Wirksamkeit geheimnißvoller Mächte überzeugt
war. Anatomische Studien waren lange Zeit mit dem Kirchenbanne bedroht.
Bei Prognosen und Kuren ließ man sich vom Staude der Gestirne leiten.
Beinahe die ganze Diagnostik beruhte auf Pulsfühlen und Harnbeschauen.

In der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts wurde es mit der
Wiederbelebung des Studiums der griechischen Literatur wie auf dem Gebiete
anderer Wissenschaften so auch auf dem der Heilkunde etwas besser, indem
man das Joch Galen's und der Araber abzuwerfen und zu Hippokrates zurück¬
zukehren begann, der vorurteilsfrei sich rein auf die Beobachtung gestützt hatte.
Indeß hielt man sich nicht sowohl an dessen Geist, als an dessen Buchstaben,
und so verfiel man in neue Sklaverei. Dem gegenüber bestrebten sich Para-
celsus und seine Schule, die Medizin auf den rein künstlerischen Standpunkt
zurückzuführen, den ihr jener altgriechische Arzt angewiesen. Dieser Stand¬
punkt konnte indeß um so weniger genügen, als ihn die Paracelststen mit den
mystischen Wolken der Neuplatoniker umgeben hatten. Es galt, mit Benutzung
der Naturkunde die Medizin zur Wissenschaft zu erheben. Diese Aufgabe
wurde von den Chemiatrikern und Jatromechanikern mit Eifer in Angriff ge-
nommen, aber ungenügend gelöst. War den Paracelststen der Mensch die Natur
im Kleinen, der Mikrokosmus gegenüber dem Makrokosmus, die Wassersucht
eine mikrokosmische Überschwemmung, die Atrophie eine Dürre, der Schlagfluß
ein Blitz im Mikrokosmus gewesen, so saßte die chemiatrische Schule den ganzen
Lebensprozeß als eine Reihenfolge von chemischen Vorgängen, von Gährungen
und Aufwallungen der Galle, des Speichels und anderer Säfte auf und grün¬
dete die gesammte Pathologie auf deu Konflikt dieser "Schärfen". Ihre
Therapie stand damit im Einklang: sie stellte den Schärfen die chemisch neu-
tralisirenden Mittel entgegen und trieb mit Abführungen, flüchtigen Salzen,
giftwidrigeu Tränkchen, säurebindenden und schweißtreibenden Arzeneien den
ärgsten Mißbrauch, dem Tausende zum Opfer fielen. Die Jatromechaniker da¬
gegen sahen, von der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes durch Harvey
ausgehend, alle Funktionen des Lebens nur als räumliche Veränderungen und
jedes Organ als mechanisches Werkzeug an und ließen höchstens noch einiges
Gähren und Aufbrausen des "Nervensaftes" als Lebenszeichen gelten. In den
Zähnen erblickten sie Scheeren, im Magen eine Flasche, in den Adern hydrau¬
lische Röhren, im Herzen den Stempel einer Wasserkunst, in den Eingeweiden


geübte Heilkunde einen geistlichen Charakter angenommen: der religiöse Glaube
war gewissermaßen Universalmittel, die ärztliche Kunst zu einer christlichen
Magie geworden, die vorzüglich mit den Heilapparaten der Kirche: Gebeten,
Beschwörungen und Weihwasser operirte. So folgte die mittelalterliche Medizin
einerseits der trostlosesten Verstandesrichtung, während sie andererseits von dem
Glauben an Wunder und die Wirksamkeit geheimnißvoller Mächte überzeugt
war. Anatomische Studien waren lange Zeit mit dem Kirchenbanne bedroht.
Bei Prognosen und Kuren ließ man sich vom Staude der Gestirne leiten.
Beinahe die ganze Diagnostik beruhte auf Pulsfühlen und Harnbeschauen.

In der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts wurde es mit der
Wiederbelebung des Studiums der griechischen Literatur wie auf dem Gebiete
anderer Wissenschaften so auch auf dem der Heilkunde etwas besser, indem
man das Joch Galen's und der Araber abzuwerfen und zu Hippokrates zurück¬
zukehren begann, der vorurteilsfrei sich rein auf die Beobachtung gestützt hatte.
Indeß hielt man sich nicht sowohl an dessen Geist, als an dessen Buchstaben,
und so verfiel man in neue Sklaverei. Dem gegenüber bestrebten sich Para-
celsus und seine Schule, die Medizin auf den rein künstlerischen Standpunkt
zurückzuführen, den ihr jener altgriechische Arzt angewiesen. Dieser Stand¬
punkt konnte indeß um so weniger genügen, als ihn die Paracelststen mit den
mystischen Wolken der Neuplatoniker umgeben hatten. Es galt, mit Benutzung
der Naturkunde die Medizin zur Wissenschaft zu erheben. Diese Aufgabe
wurde von den Chemiatrikern und Jatromechanikern mit Eifer in Angriff ge-
nommen, aber ungenügend gelöst. War den Paracelststen der Mensch die Natur
im Kleinen, der Mikrokosmus gegenüber dem Makrokosmus, die Wassersucht
eine mikrokosmische Überschwemmung, die Atrophie eine Dürre, der Schlagfluß
ein Blitz im Mikrokosmus gewesen, so saßte die chemiatrische Schule den ganzen
Lebensprozeß als eine Reihenfolge von chemischen Vorgängen, von Gährungen
und Aufwallungen der Galle, des Speichels und anderer Säfte auf und grün¬
dete die gesammte Pathologie auf deu Konflikt dieser „Schärfen". Ihre
Therapie stand damit im Einklang: sie stellte den Schärfen die chemisch neu-
tralisirenden Mittel entgegen und trieb mit Abführungen, flüchtigen Salzen,
giftwidrigeu Tränkchen, säurebindenden und schweißtreibenden Arzeneien den
ärgsten Mißbrauch, dem Tausende zum Opfer fielen. Die Jatromechaniker da¬
gegen sahen, von der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes durch Harvey
ausgehend, alle Funktionen des Lebens nur als räumliche Veränderungen und
jedes Organ als mechanisches Werkzeug an und ließen höchstens noch einiges
Gähren und Aufbrausen des „Nervensaftes" als Lebenszeichen gelten. In den
Zähnen erblickten sie Scheeren, im Magen eine Flasche, in den Adern hydrau¬
lische Röhren, im Herzen den Stempel einer Wasserkunst, in den Eingeweiden


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[0271] geübte Heilkunde einen geistlichen Charakter angenommen: der religiöse Glaube war gewissermaßen Universalmittel, die ärztliche Kunst zu einer christlichen Magie geworden, die vorzüglich mit den Heilapparaten der Kirche: Gebeten, Beschwörungen und Weihwasser operirte. So folgte die mittelalterliche Medizin einerseits der trostlosesten Verstandesrichtung, während sie andererseits von dem Glauben an Wunder und die Wirksamkeit geheimnißvoller Mächte überzeugt war. Anatomische Studien waren lange Zeit mit dem Kirchenbanne bedroht. Bei Prognosen und Kuren ließ man sich vom Staude der Gestirne leiten. Beinahe die ganze Diagnostik beruhte auf Pulsfühlen und Harnbeschauen. In der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts wurde es mit der Wiederbelebung des Studiums der griechischen Literatur wie auf dem Gebiete anderer Wissenschaften so auch auf dem der Heilkunde etwas besser, indem man das Joch Galen's und der Araber abzuwerfen und zu Hippokrates zurück¬ zukehren begann, der vorurteilsfrei sich rein auf die Beobachtung gestützt hatte. Indeß hielt man sich nicht sowohl an dessen Geist, als an dessen Buchstaben, und so verfiel man in neue Sklaverei. Dem gegenüber bestrebten sich Para- celsus und seine Schule, die Medizin auf den rein künstlerischen Standpunkt zurückzuführen, den ihr jener altgriechische Arzt angewiesen. Dieser Stand¬ punkt konnte indeß um so weniger genügen, als ihn die Paracelststen mit den mystischen Wolken der Neuplatoniker umgeben hatten. Es galt, mit Benutzung der Naturkunde die Medizin zur Wissenschaft zu erheben. Diese Aufgabe wurde von den Chemiatrikern und Jatromechanikern mit Eifer in Angriff ge- nommen, aber ungenügend gelöst. War den Paracelststen der Mensch die Natur im Kleinen, der Mikrokosmus gegenüber dem Makrokosmus, die Wassersucht eine mikrokosmische Überschwemmung, die Atrophie eine Dürre, der Schlagfluß ein Blitz im Mikrokosmus gewesen, so saßte die chemiatrische Schule den ganzen Lebensprozeß als eine Reihenfolge von chemischen Vorgängen, von Gährungen und Aufwallungen der Galle, des Speichels und anderer Säfte auf und grün¬ dete die gesammte Pathologie auf deu Konflikt dieser „Schärfen". Ihre Therapie stand damit im Einklang: sie stellte den Schärfen die chemisch neu- tralisirenden Mittel entgegen und trieb mit Abführungen, flüchtigen Salzen, giftwidrigeu Tränkchen, säurebindenden und schweißtreibenden Arzeneien den ärgsten Mißbrauch, dem Tausende zum Opfer fielen. Die Jatromechaniker da¬ gegen sahen, von der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes durch Harvey ausgehend, alle Funktionen des Lebens nur als räumliche Veränderungen und jedes Organ als mechanisches Werkzeug an und ließen höchstens noch einiges Gähren und Aufbrausen des „Nervensaftes" als Lebenszeichen gelten. In den Zähnen erblickten sie Scheeren, im Magen eine Flasche, in den Adern hydrau¬ lische Röhren, im Herzen den Stempel einer Wasserkunst, in den Eingeweiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/271>, abgerufen am 14.06.2024.