Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.wurde in Gegenwart des Kaisers die kaiserliche Botschaft verlesen, welche Weiter und weiter führte der kühne Theoretiker den Kaiser, aber -- trotz "Zwei Jahrhunderte zu früh hatte er seine Brandfackel in die Welt ge¬ wurde in Gegenwart des Kaisers die kaiserliche Botschaft verlesen, welche Weiter und weiter führte der kühne Theoretiker den Kaiser, aber — trotz „Zwei Jahrhunderte zu früh hatte er seine Brandfackel in die Welt ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143073"/> <p xml:id="ID_60" prev="#ID_59"> wurde in Gegenwart des Kaisers die kaiserliche Botschaft verlesen, welche<lb/> Johann XXII. aller kirchlichen Würden für entkleidet, des kirchlichen Amtes<lb/> und Benesizinms für beraubt erklärt und ihn dem Gericht der weltlichen Macht<lb/> unterstellt, so daß ihn alle Lehensträger des Reiches als Häretiker bestrafen<lb/> mögen, wo sie ihn treffen. Dieses Manifest war, wie Musset ausdrücklich be¬<lb/> richtet, das Werk des Ubertino und des Marsiglio. Am 23. April saßte eine vom<lb/> Kaiser berufene Volksversammlung den Beschluß, daß jeder Papst in Rom<lb/> wohnen müsse. Endlich am 12. Mai ließ der Kaiser durch das Volk einen<lb/> einfachen Bettelmönch zum Papste wählen, die Verkörperung des Prinzips jener<lb/> apostolischen Armuth und Schlichtheit, von der, wie Marsiglio immer klagt,<lb/> die Kirche sich soweit entfernt hatte. So wird durch eine Reihe der revolu¬<lb/> tionärsten Handlungen, die je von einem gekrönten Haupte ausgegangen sind,<lb/> wieder in Bahnen eingelenkt, von denen sich die Entwickelung vieler Jahrhun¬<lb/> derte entfernt hatte. Wie sich einst die Päpste mit der Demokratie verbunden<lb/> hatten, um die Kaiser zu bekämpfen, so hat Ludwig an das demokratische<lb/> Prinzip von der Majestät des römischen Volkes appellirt. Marsiglio aber war<lb/> es, der ihn dazu trieb.</p><lb/> <p xml:id="ID_61"> Weiter und weiter führte der kühne Theoretiker den Kaiser, aber — trotz<lb/> alles Glanzes und Gepränges stand die Sache Ludwigs nicht fest. Aufflam¬<lb/> mende Begeisterung eines wankelmüthigen Volkes und geistvolle Umsturztheorieen<lb/> sind keine Stützen für ein Kaiserthum. Noch eine Zeit lang hat Ludwig Bischöfe<lb/> unter Beistimmung des Volkes ernannt, er hat Marsiglio selbst zum päpstlichen<lb/> Vikar erwählt, ist mit dem Kirchengut nach Gutdünken verfahren; aber endlich<lb/> unterlag er im Kampfe gegen das Papstthum: der Tag kam, wo er unter<lb/> den Schmähungen des Volkes, das ihm „Häretiker, Exkommunizirter" nachrief,<lb/> verfolgt von Steinwürfen, fluchtähnlich die ewige Stadt verließ. Seitdem ver¬<lb/> schwindet Marsiglio, der vom Papste als Zögling des Verderbens und Sohn<lb/> des Fluchs gekennzeichnet war, aus der Reihe der kaiserlichen Berather, und<lb/> es ist schwer, den Spuren des geistvollen Mannes weiter nachzugehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_62"> „Zwei Jahrhunderte zu früh hatte er seine Brandfackel in die Welt ge¬<lb/> schleudert. Noch war der Zündstoff nicht so aufgehäuft, daß sie gewirkt hätte,<lb/> und Kaiser Ludwig, der zwischen den Extremen höchster Ueberhebung und tiefster<lb/> Unterwerfung gegenüber dem zeitgenössischen Papstthum charakterlos umher¬<lb/> schwankte, war nicht der Mann, weltgestaltende Ideen ins Leben zu führen.<lb/> So blieb denn das Werk des Herolds der Wahrheit, wie er sich selbst nannte,<lb/> im Staube der Klosterbibliotheken begraben, zur Lektüre für Mönche, die sich<lb/> über den Ketzer bekreuzigten, aber auch zum Studium für Andere, durch deren<lb/> Vermittelung zwei Jahrhunderte später die Ideen des Marsilins verwirklicht<lb/> wurden." (Friedberg.)</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
wurde in Gegenwart des Kaisers die kaiserliche Botschaft verlesen, welche
Johann XXII. aller kirchlichen Würden für entkleidet, des kirchlichen Amtes
und Benesizinms für beraubt erklärt und ihn dem Gericht der weltlichen Macht
unterstellt, so daß ihn alle Lehensträger des Reiches als Häretiker bestrafen
mögen, wo sie ihn treffen. Dieses Manifest war, wie Musset ausdrücklich be¬
richtet, das Werk des Ubertino und des Marsiglio. Am 23. April saßte eine vom
Kaiser berufene Volksversammlung den Beschluß, daß jeder Papst in Rom
wohnen müsse. Endlich am 12. Mai ließ der Kaiser durch das Volk einen
einfachen Bettelmönch zum Papste wählen, die Verkörperung des Prinzips jener
apostolischen Armuth und Schlichtheit, von der, wie Marsiglio immer klagt,
die Kirche sich soweit entfernt hatte. So wird durch eine Reihe der revolu¬
tionärsten Handlungen, die je von einem gekrönten Haupte ausgegangen sind,
wieder in Bahnen eingelenkt, von denen sich die Entwickelung vieler Jahrhun¬
derte entfernt hatte. Wie sich einst die Päpste mit der Demokratie verbunden
hatten, um die Kaiser zu bekämpfen, so hat Ludwig an das demokratische
Prinzip von der Majestät des römischen Volkes appellirt. Marsiglio aber war
es, der ihn dazu trieb.
Weiter und weiter führte der kühne Theoretiker den Kaiser, aber — trotz
alles Glanzes und Gepränges stand die Sache Ludwigs nicht fest. Aufflam¬
mende Begeisterung eines wankelmüthigen Volkes und geistvolle Umsturztheorieen
sind keine Stützen für ein Kaiserthum. Noch eine Zeit lang hat Ludwig Bischöfe
unter Beistimmung des Volkes ernannt, er hat Marsiglio selbst zum päpstlichen
Vikar erwählt, ist mit dem Kirchengut nach Gutdünken verfahren; aber endlich
unterlag er im Kampfe gegen das Papstthum: der Tag kam, wo er unter
den Schmähungen des Volkes, das ihm „Häretiker, Exkommunizirter" nachrief,
verfolgt von Steinwürfen, fluchtähnlich die ewige Stadt verließ. Seitdem ver¬
schwindet Marsiglio, der vom Papste als Zögling des Verderbens und Sohn
des Fluchs gekennzeichnet war, aus der Reihe der kaiserlichen Berather, und
es ist schwer, den Spuren des geistvollen Mannes weiter nachzugehen.
„Zwei Jahrhunderte zu früh hatte er seine Brandfackel in die Welt ge¬
schleudert. Noch war der Zündstoff nicht so aufgehäuft, daß sie gewirkt hätte,
und Kaiser Ludwig, der zwischen den Extremen höchster Ueberhebung und tiefster
Unterwerfung gegenüber dem zeitgenössischen Papstthum charakterlos umher¬
schwankte, war nicht der Mann, weltgestaltende Ideen ins Leben zu führen.
So blieb denn das Werk des Herolds der Wahrheit, wie er sich selbst nannte,
im Staube der Klosterbibliotheken begraben, zur Lektüre für Mönche, die sich
über den Ketzer bekreuzigten, aber auch zum Studium für Andere, durch deren
Vermittelung zwei Jahrhunderte später die Ideen des Marsilins verwirklicht
wurden." (Friedberg.)
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