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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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der Ordnung der Angelegenheiten des ermordeten Fräulein Tinne gewidmet.
Zu letzterer Thätigkeit hatte ihn nicht nur sein eignes Interesse an dem traurigen
Schicksal der Verstorbenen bewogen, sondern auch die Dienerschaft derselben
und der holländische Generalkonsul in Tripolis, dem es nicht gelungen war,
bei dem äußerst nachlässigen Geschäftsgange der türkischen Behörden zur Klar¬
heit über die näheren Umstände des Vorgangs und die schuldigen Persönlich¬
keiten zu gelangen, hatten ihn dazu aufgefordert. Was über das Ende von
Frl. Tinne festzustehen scheint, ist beiläufig folgendes: Es hatten sich, unter
dem Vorgeben, ihr als Begleiter und Schützer dienen zu wollen, mehrere
Tu^rik ihrer Karawane angeschlossen und mit einem Theile ihrer afrikanischen
Dienerschaft ein Komplot gegen sie geschmiedet. Mitten auf dem Marsche er¬
regten die Verschwornen über die Beladung der Kameele Streit, schlugen zuerst
die holländischen Diener, die den Streit schlichten wollten, nieder, und als das
Fräulein selbst, Ruhe zu stiften, ans dem Zelte trat, war es ein Araber, "der
zuerst die Hand aufhob gegen das wehrlose Weib. Sein Hieb mit scharfer
Waffe über Hals und Schulter streckte sie noch nicht zu Boden, erst nach einem
zweiten über den Vorderarm, den ein Sklave des Hadsch-ches-Scheich geführt
haben soll, und nach dem starken Blutverluste sank die zarte Dame nieder.
Ihr Bewußtsein schwand glücklicherweise bald; doch erst als die Sonne die
Mitte ihrer Bahn überschritten hatte, hauchte die Arme das Leben aus."
Nachtigal, der ihre Thatkraft und Ausdauer anerkennt, widmet ihr folgende
Worte wie eine Art Nachruf: "Einst an Königshöfen bewundert in der Ent¬
faltung ihres Geistes und ihrer Schönheit, hatte sie die Wunden eines unbe¬
friedigten Herzens durch überweibliche Anstrengung physischer und geistiger
Kräfte zu heilen oder zu vergessen gesucht und ihr Wohlwollen an diejenigen
verschwendet, welche sie jetzt verrathen hatten."

Als Nachtigal die beiden erwähnten Zwecke erreicht, auch die Aufzeichnung
seiner Erinnerungen von der Tibesti-Reise beendet hatte, sehnte er eine Gele¬
genheit zum Aufbruch nach Bornu um so lebhafter herbei, als in Folge der
Unfähigkeit und des bösen Willens des augenblicklichen Machthabers die öffent¬
lichen Zustände in Mursuk immer unerfreulicher wurden. Dieser, namens
Hamed Bei, war nicht der Mann, den TM und Tuarik Respekt einzuflößen
und die nicht minder gefurchtsten Nomaden der Provinz und der großen Syrte
im Zaume zu halten; ein unbehagliches Gefühl allgemeiner Unsicherheit lastete
auf den Bewohnern. Dazu machte sich die Strenge des unterdeß herbeige¬
kommenen Winters in unerwartetem Grade fühlbar, da die Vorrichtungen zur
Abwehr der rauheren Witterung in keiner Weise genügten. Am drastischsten
sollte Nachtigal diesen Mangel gerade am Weihnachtsabend empfinden, den er
bei einem Glase Grog in heimatlicher Weise zu feiern beabsichtigt hatte. Schon


der Ordnung der Angelegenheiten des ermordeten Fräulein Tinne gewidmet.
Zu letzterer Thätigkeit hatte ihn nicht nur sein eignes Interesse an dem traurigen
Schicksal der Verstorbenen bewogen, sondern auch die Dienerschaft derselben
und der holländische Generalkonsul in Tripolis, dem es nicht gelungen war,
bei dem äußerst nachlässigen Geschäftsgange der türkischen Behörden zur Klar¬
heit über die näheren Umstände des Vorgangs und die schuldigen Persönlich¬
keiten zu gelangen, hatten ihn dazu aufgefordert. Was über das Ende von
Frl. Tinne festzustehen scheint, ist beiläufig folgendes: Es hatten sich, unter
dem Vorgeben, ihr als Begleiter und Schützer dienen zu wollen, mehrere
Tu^rik ihrer Karawane angeschlossen und mit einem Theile ihrer afrikanischen
Dienerschaft ein Komplot gegen sie geschmiedet. Mitten auf dem Marsche er¬
regten die Verschwornen über die Beladung der Kameele Streit, schlugen zuerst
die holländischen Diener, die den Streit schlichten wollten, nieder, und als das
Fräulein selbst, Ruhe zu stiften, ans dem Zelte trat, war es ein Araber, „der
zuerst die Hand aufhob gegen das wehrlose Weib. Sein Hieb mit scharfer
Waffe über Hals und Schulter streckte sie noch nicht zu Boden, erst nach einem
zweiten über den Vorderarm, den ein Sklave des Hadsch-ches-Scheich geführt
haben soll, und nach dem starken Blutverluste sank die zarte Dame nieder.
Ihr Bewußtsein schwand glücklicherweise bald; doch erst als die Sonne die
Mitte ihrer Bahn überschritten hatte, hauchte die Arme das Leben aus."
Nachtigal, der ihre Thatkraft und Ausdauer anerkennt, widmet ihr folgende
Worte wie eine Art Nachruf: „Einst an Königshöfen bewundert in der Ent¬
faltung ihres Geistes und ihrer Schönheit, hatte sie die Wunden eines unbe¬
friedigten Herzens durch überweibliche Anstrengung physischer und geistiger
Kräfte zu heilen oder zu vergessen gesucht und ihr Wohlwollen an diejenigen
verschwendet, welche sie jetzt verrathen hatten."

Als Nachtigal die beiden erwähnten Zwecke erreicht, auch die Aufzeichnung
seiner Erinnerungen von der Tibesti-Reise beendet hatte, sehnte er eine Gele¬
genheit zum Aufbruch nach Bornu um so lebhafter herbei, als in Folge der
Unfähigkeit und des bösen Willens des augenblicklichen Machthabers die öffent¬
lichen Zustände in Mursuk immer unerfreulicher wurden. Dieser, namens
Hamed Bei, war nicht der Mann, den TM und Tuarik Respekt einzuflößen
und die nicht minder gefurchtsten Nomaden der Provinz und der großen Syrte
im Zaume zu halten; ein unbehagliches Gefühl allgemeiner Unsicherheit lastete
auf den Bewohnern. Dazu machte sich die Strenge des unterdeß herbeige¬
kommenen Winters in unerwartetem Grade fühlbar, da die Vorrichtungen zur
Abwehr der rauheren Witterung in keiner Weise genügten. Am drastischsten
sollte Nachtigal diesen Mangel gerade am Weihnachtsabend empfinden, den er
bei einem Glase Grog in heimatlicher Weise zu feiern beabsichtigt hatte. Schon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/202>, abgerufen am 26.05.2024.