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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
8. (Schluß.) Die deutschen Juden in der Gegenwart, und was nun?

Der deutsche Jude des Mittelalters und der nächsten drei Jahrhunderte stand
außerhalb der Gesellschaft und in vielen Beziehungen auch außerhalb des öffentlichen
Rechts. Für das Volk und die Regierungen ein Fremdling, fühlte er sich auch
selbst als solchen. Seine Ideale lagen, wo er überhaupt Ideale und nicht bloß
den Wunsch, auf Kosten Anderer schnell reich zu werden, kannte, nicht in der Gegen¬
wart, sondern in der Vergangenheit und Zukunft, sie waren Erinnerungen und
Hoffnungen. Sein Vaterland war Palästina, und die Geschichte interessirte ihn nur
bis zur Zerstörung Jerusalems. Nach dieser gab es für ihn nnr die Fortsetzung
des über sein Volk, das "auserwählte", das "Volk Gottes" für eine gewisse Zeit
verhängten Strafgerichtes, der Verbannung von Zion und den anderen heiligen
Stätten, und die Hoffnung auf den Messias, welcher die im Exile Zerstreuter sammeln
und die alte Herrlichkeit wieder aufrichten sollte.

Ganz und gar fernbleiben vom Leben und der Cultur der Gojim, unter denen er
lebte, konnte der Jude allerdings nicht. Er hatte unter ihnen in seiner Art deutsch
sprechen gelernt und sich wohl auch Einzelnes von den Sitten und Kenntnissen
seiner nichtjüdischer Umgebung angeeignet. Im übrigen aber blieben die semitischen
Kolonien in Deutschland eine Welt für sich, eine halbfossile Welt, die, soweit sie
geistiges Leben zeigte, nur in seltenen Fällen -- wir denken an Spinoza -- mehr
als ein immer erneutes Memoriren und Reproduciren einer alten, nicht mehr zu
der neuen Wohnstätte passenden Cultur und Literatur war. Der Jugendunterricht
bestand in formloser Unterweisung in den zur Ausübung der Religionsvorschriften
nothwendigen Elementen und Uebung des Verstandes an letzteren, für die, welche
später mehr verlangten, in EinPrägung der Speculationen, welche die alten Rabbinen
Mer das Gesetz angestellt, und in Disputationen über diesen todten Stoff. Aus
diesen Talmudschulen ging der junge Maun uicht immer zur Wirksamkeit eines
Rabbiners über. Vielmehr setzten häufig auch Geschäftsleute eine Ehre darein,
sich mit der erwähnten nationalen Literatur bekannt zu machen, und gerade aus
diesen Kreisen entwickelte sich zuerst die Tendenz nach einer Art von wissenschaftlicher
Auffassung und Behandlung dieser Studien und ein gewisses Bedürfniß nach anderen


Grenzboten II. 1S80. 23
Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage.
8. (Schluß.) Die deutschen Juden in der Gegenwart, und was nun?

Der deutsche Jude des Mittelalters und der nächsten drei Jahrhunderte stand
außerhalb der Gesellschaft und in vielen Beziehungen auch außerhalb des öffentlichen
Rechts. Für das Volk und die Regierungen ein Fremdling, fühlte er sich auch
selbst als solchen. Seine Ideale lagen, wo er überhaupt Ideale und nicht bloß
den Wunsch, auf Kosten Anderer schnell reich zu werden, kannte, nicht in der Gegen¬
wart, sondern in der Vergangenheit und Zukunft, sie waren Erinnerungen und
Hoffnungen. Sein Vaterland war Palästina, und die Geschichte interessirte ihn nur
bis zur Zerstörung Jerusalems. Nach dieser gab es für ihn nnr die Fortsetzung
des über sein Volk, das „auserwählte", das „Volk Gottes" für eine gewisse Zeit
verhängten Strafgerichtes, der Verbannung von Zion und den anderen heiligen
Stätten, und die Hoffnung auf den Messias, welcher die im Exile Zerstreuter sammeln
und die alte Herrlichkeit wieder aufrichten sollte.

Ganz und gar fernbleiben vom Leben und der Cultur der Gojim, unter denen er
lebte, konnte der Jude allerdings nicht. Er hatte unter ihnen in seiner Art deutsch
sprechen gelernt und sich wohl auch Einzelnes von den Sitten und Kenntnissen
seiner nichtjüdischer Umgebung angeeignet. Im übrigen aber blieben die semitischen
Kolonien in Deutschland eine Welt für sich, eine halbfossile Welt, die, soweit sie
geistiges Leben zeigte, nur in seltenen Fällen — wir denken an Spinoza — mehr
als ein immer erneutes Memoriren und Reproduciren einer alten, nicht mehr zu
der neuen Wohnstätte passenden Cultur und Literatur war. Der Jugendunterricht
bestand in formloser Unterweisung in den zur Ausübung der Religionsvorschriften
nothwendigen Elementen und Uebung des Verstandes an letzteren, für die, welche
später mehr verlangten, in EinPrägung der Speculationen, welche die alten Rabbinen
Mer das Gesetz angestellt, und in Disputationen über diesen todten Stoff. Aus
diesen Talmudschulen ging der junge Maun uicht immer zur Wirksamkeit eines
Rabbiners über. Vielmehr setzten häufig auch Geschäftsleute eine Ehre darein,
sich mit der erwähnten nationalen Literatur bekannt zu machen, und gerade aus
diesen Kreisen entwickelte sich zuerst die Tendenz nach einer Art von wissenschaftlicher
Auffassung und Behandlung dieser Studien und ein gewisses Bedürfniß nach anderen


Grenzboten II. 1S80. 23
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[0181] Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage. 8. (Schluß.) Die deutschen Juden in der Gegenwart, und was nun? Der deutsche Jude des Mittelalters und der nächsten drei Jahrhunderte stand außerhalb der Gesellschaft und in vielen Beziehungen auch außerhalb des öffentlichen Rechts. Für das Volk und die Regierungen ein Fremdling, fühlte er sich auch selbst als solchen. Seine Ideale lagen, wo er überhaupt Ideale und nicht bloß den Wunsch, auf Kosten Anderer schnell reich zu werden, kannte, nicht in der Gegen¬ wart, sondern in der Vergangenheit und Zukunft, sie waren Erinnerungen und Hoffnungen. Sein Vaterland war Palästina, und die Geschichte interessirte ihn nur bis zur Zerstörung Jerusalems. Nach dieser gab es für ihn nnr die Fortsetzung des über sein Volk, das „auserwählte", das „Volk Gottes" für eine gewisse Zeit verhängten Strafgerichtes, der Verbannung von Zion und den anderen heiligen Stätten, und die Hoffnung auf den Messias, welcher die im Exile Zerstreuter sammeln und die alte Herrlichkeit wieder aufrichten sollte. Ganz und gar fernbleiben vom Leben und der Cultur der Gojim, unter denen er lebte, konnte der Jude allerdings nicht. Er hatte unter ihnen in seiner Art deutsch sprechen gelernt und sich wohl auch Einzelnes von den Sitten und Kenntnissen seiner nichtjüdischer Umgebung angeeignet. Im übrigen aber blieben die semitischen Kolonien in Deutschland eine Welt für sich, eine halbfossile Welt, die, soweit sie geistiges Leben zeigte, nur in seltenen Fällen — wir denken an Spinoza — mehr als ein immer erneutes Memoriren und Reproduciren einer alten, nicht mehr zu der neuen Wohnstätte passenden Cultur und Literatur war. Der Jugendunterricht bestand in formloser Unterweisung in den zur Ausübung der Religionsvorschriften nothwendigen Elementen und Uebung des Verstandes an letzteren, für die, welche später mehr verlangten, in EinPrägung der Speculationen, welche die alten Rabbinen Mer das Gesetz angestellt, und in Disputationen über diesen todten Stoff. Aus diesen Talmudschulen ging der junge Maun uicht immer zur Wirksamkeit eines Rabbiners über. Vielmehr setzten häufig auch Geschäftsleute eine Ehre darein, sich mit der erwähnten nationalen Literatur bekannt zu machen, und gerade aus diesen Kreisen entwickelte sich zuerst die Tendenz nach einer Art von wissenschaftlicher Auffassung und Behandlung dieser Studien und ein gewisses Bedürfniß nach anderen Grenzboten II. 1S80. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/181>, abgerufen am 24.05.2024.