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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Gegenständen aus dem Bereiche geistiger Güter, als sie die Lehrstuben der Rabbinen
boten. Dagegen war das ganze Denken und Thun der letzteren lediglich eine
Fortsetzung der Thätigkeit ihrer Schülerjahre, nur daß sie jetzt nicht so sehr Lernende
als Lehrer waren. Sie waren keine Priester, auch keine Geistlichen im protestantischen
Sinne, nicht einmal Prediger, sondern Orakel bei Fragen des Ceremoniels und
Rituals und, soweit es die Landesgesetze gestatteten, Richter in Rechtsstreitigkeiten,
die sie nach Anweisung des Talmud schlichteten. Eine Belehrung seiner Gemeinde
über das innere Wesen der Religion sah der Rabbiner durchaus nicht als seine
Aufgabe an, und die Vorträge, die er jährlich ein oder ein paar Mal in der
Synagoge hielt, waren nichts weniger als geistliche Reden, sondern Disputationen
über irgend ein talmudisches Thema in monologischer Form.

Diese Zustände sind durch den Einfluß Mendelssohns, des Vaters der Reform¬
juden - Bewegung, gebessert worden. Mendelssohn hatte sich namentlich durch das
Studium der Schriften des Rabbi Maimonides über die Sphäre des Talmud
erhoben, er besaß gute mathematische Kenntnisse und interessirte sich für deutsche
Literatur. Schwerlich aber würde er zum Reformator geworden sein, wenn er nicht
mit Lessing, dem Rationalisten und Kosmopoliten, in Verbindung gekommen wäre.
Von diesem angeregt, verfaßte er eine Anzahl "populärphilosophischer" Schriften,
in denen er vom Standpunkte des Deismus einerseits gegen den Atheismus und
Materialismus der französischen Philosophen, andererseits gegen das positive
Christenthum polemisirte, aber zwei von den Dogmen des letzteren, den persönlichen
Gott und die persönliche Fortdauer der Seele, die ja auch zum Judenglauben
gehörten, zu vertheidigen bemüht war.

Zur Begründung der Unsterblichkeitstheorie schrieb Mendelssohn mit Anlehnung
an Platon den "Phädon", ein Buch, an dem höchstens die gewandte Darstellung
zu loben ist; die Beweisführung aber verläuft in unbewiesenen Voraussetzungen und
oberflächlichen Spitzfindigkeiten. Die Gottesidee behandelte er in den "Morgen¬
stunden". Auch hier ging er wieder von Annahmen aus, die erst zu begründen
gewesen wären, und versuchte denselben mit pathetischer Beredsamkeit den Stempel
von Wahrheiten aufzudrücken. sein Hauptmotiv war ein sentimentales: der "Trost"
den man im Glauben an Gott und eine Vorsehung finden sollte, was wenig besser
als eine Empfehlung war, sich der Bequemlichkeit halber selbst zu belügen. Damals
aber fand dieses seichte Gerede mit seinem empfindsamen Tone auch unter Christen
viel Anklang; selbst Fürsten drückten dem Berliner "Weltweisen" ihre Bewunde¬
rung aus.

Auch auf Mendelssohns Stammgenossen übten jene Schriften eine weitgehende
Wirkung aus: die heutigen Reformjuden sind, soweit sie Notiz von religiösen
Dingen nehmen, unseres Wissens durchgehends Deisten mit einem starken Stich ins
Sentimentale. Indeß kam jene Wirkung erst allmählich in weiteren Kreisen zum
Durchbruche. Rascher und unmittelbarer machte sich der Einfluß geltend, den
Mendelssohns Bibelübersetzung auf die deutschen Juden übte, obwohl er ursprünglich
dabei nicht den Muth entwickelte, welchen Reformatoren ebenso wie Prätendenten


Gegenständen aus dem Bereiche geistiger Güter, als sie die Lehrstuben der Rabbinen
boten. Dagegen war das ganze Denken und Thun der letzteren lediglich eine
Fortsetzung der Thätigkeit ihrer Schülerjahre, nur daß sie jetzt nicht so sehr Lernende
als Lehrer waren. Sie waren keine Priester, auch keine Geistlichen im protestantischen
Sinne, nicht einmal Prediger, sondern Orakel bei Fragen des Ceremoniels und
Rituals und, soweit es die Landesgesetze gestatteten, Richter in Rechtsstreitigkeiten,
die sie nach Anweisung des Talmud schlichteten. Eine Belehrung seiner Gemeinde
über das innere Wesen der Religion sah der Rabbiner durchaus nicht als seine
Aufgabe an, und die Vorträge, die er jährlich ein oder ein paar Mal in der
Synagoge hielt, waren nichts weniger als geistliche Reden, sondern Disputationen
über irgend ein talmudisches Thema in monologischer Form.

Diese Zustände sind durch den Einfluß Mendelssohns, des Vaters der Reform¬
juden - Bewegung, gebessert worden. Mendelssohn hatte sich namentlich durch das
Studium der Schriften des Rabbi Maimonides über die Sphäre des Talmud
erhoben, er besaß gute mathematische Kenntnisse und interessirte sich für deutsche
Literatur. Schwerlich aber würde er zum Reformator geworden sein, wenn er nicht
mit Lessing, dem Rationalisten und Kosmopoliten, in Verbindung gekommen wäre.
Von diesem angeregt, verfaßte er eine Anzahl „populärphilosophischer" Schriften,
in denen er vom Standpunkte des Deismus einerseits gegen den Atheismus und
Materialismus der französischen Philosophen, andererseits gegen das positive
Christenthum polemisirte, aber zwei von den Dogmen des letzteren, den persönlichen
Gott und die persönliche Fortdauer der Seele, die ja auch zum Judenglauben
gehörten, zu vertheidigen bemüht war.

Zur Begründung der Unsterblichkeitstheorie schrieb Mendelssohn mit Anlehnung
an Platon den „Phädon", ein Buch, an dem höchstens die gewandte Darstellung
zu loben ist; die Beweisführung aber verläuft in unbewiesenen Voraussetzungen und
oberflächlichen Spitzfindigkeiten. Die Gottesidee behandelte er in den „Morgen¬
stunden". Auch hier ging er wieder von Annahmen aus, die erst zu begründen
gewesen wären, und versuchte denselben mit pathetischer Beredsamkeit den Stempel
von Wahrheiten aufzudrücken. sein Hauptmotiv war ein sentimentales: der „Trost"
den man im Glauben an Gott und eine Vorsehung finden sollte, was wenig besser
als eine Empfehlung war, sich der Bequemlichkeit halber selbst zu belügen. Damals
aber fand dieses seichte Gerede mit seinem empfindsamen Tone auch unter Christen
viel Anklang; selbst Fürsten drückten dem Berliner „Weltweisen" ihre Bewunde¬
rung aus.

Auch auf Mendelssohns Stammgenossen übten jene Schriften eine weitgehende
Wirkung aus: die heutigen Reformjuden sind, soweit sie Notiz von religiösen
Dingen nehmen, unseres Wissens durchgehends Deisten mit einem starken Stich ins
Sentimentale. Indeß kam jene Wirkung erst allmählich in weiteren Kreisen zum
Durchbruche. Rascher und unmittelbarer machte sich der Einfluß geltend, den
Mendelssohns Bibelübersetzung auf die deutschen Juden übte, obwohl er ursprünglich
dabei nicht den Muth entwickelte, welchen Reformatoren ebenso wie Prätendenten


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[0182] Gegenständen aus dem Bereiche geistiger Güter, als sie die Lehrstuben der Rabbinen boten. Dagegen war das ganze Denken und Thun der letzteren lediglich eine Fortsetzung der Thätigkeit ihrer Schülerjahre, nur daß sie jetzt nicht so sehr Lernende als Lehrer waren. Sie waren keine Priester, auch keine Geistlichen im protestantischen Sinne, nicht einmal Prediger, sondern Orakel bei Fragen des Ceremoniels und Rituals und, soweit es die Landesgesetze gestatteten, Richter in Rechtsstreitigkeiten, die sie nach Anweisung des Talmud schlichteten. Eine Belehrung seiner Gemeinde über das innere Wesen der Religion sah der Rabbiner durchaus nicht als seine Aufgabe an, und die Vorträge, die er jährlich ein oder ein paar Mal in der Synagoge hielt, waren nichts weniger als geistliche Reden, sondern Disputationen über irgend ein talmudisches Thema in monologischer Form. Diese Zustände sind durch den Einfluß Mendelssohns, des Vaters der Reform¬ juden - Bewegung, gebessert worden. Mendelssohn hatte sich namentlich durch das Studium der Schriften des Rabbi Maimonides über die Sphäre des Talmud erhoben, er besaß gute mathematische Kenntnisse und interessirte sich für deutsche Literatur. Schwerlich aber würde er zum Reformator geworden sein, wenn er nicht mit Lessing, dem Rationalisten und Kosmopoliten, in Verbindung gekommen wäre. Von diesem angeregt, verfaßte er eine Anzahl „populärphilosophischer" Schriften, in denen er vom Standpunkte des Deismus einerseits gegen den Atheismus und Materialismus der französischen Philosophen, andererseits gegen das positive Christenthum polemisirte, aber zwei von den Dogmen des letzteren, den persönlichen Gott und die persönliche Fortdauer der Seele, die ja auch zum Judenglauben gehörten, zu vertheidigen bemüht war. Zur Begründung der Unsterblichkeitstheorie schrieb Mendelssohn mit Anlehnung an Platon den „Phädon", ein Buch, an dem höchstens die gewandte Darstellung zu loben ist; die Beweisführung aber verläuft in unbewiesenen Voraussetzungen und oberflächlichen Spitzfindigkeiten. Die Gottesidee behandelte er in den „Morgen¬ stunden". Auch hier ging er wieder von Annahmen aus, die erst zu begründen gewesen wären, und versuchte denselben mit pathetischer Beredsamkeit den Stempel von Wahrheiten aufzudrücken. sein Hauptmotiv war ein sentimentales: der „Trost" den man im Glauben an Gott und eine Vorsehung finden sollte, was wenig besser als eine Empfehlung war, sich der Bequemlichkeit halber selbst zu belügen. Damals aber fand dieses seichte Gerede mit seinem empfindsamen Tone auch unter Christen viel Anklang; selbst Fürsten drückten dem Berliner „Weltweisen" ihre Bewunde¬ rung aus. Auch auf Mendelssohns Stammgenossen übten jene Schriften eine weitgehende Wirkung aus: die heutigen Reformjuden sind, soweit sie Notiz von religiösen Dingen nehmen, unseres Wissens durchgehends Deisten mit einem starken Stich ins Sentimentale. Indeß kam jene Wirkung erst allmählich in weiteren Kreisen zum Durchbruche. Rascher und unmittelbarer machte sich der Einfluß geltend, den Mendelssohns Bibelübersetzung auf die deutschen Juden übte, obwohl er ursprünglich dabei nicht den Muth entwickelte, welchen Reformatoren ebenso wie Prätendenten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/182>, abgerufen am 16.06.2024.