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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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druck einer Seherin steigern, aber das geht vorüber, und dann bleibt nur etwas
Gutmüthiges und fast peinlich sittsames zurück; einen eigenen Reiz und gele¬
gentlichen Nichtreiz giebt ihr die Art ihres Teints, der für gewöhnlich bleich,
bis zur Entfärbung der Lippen, ganz vergessen macht, daß man ein Mädchen
vor sich hat -- aber bei der kleiusten Erregung, geistiger, so wie körperlicher,
fliegt eine leichte Rothe über ihr ganzes Gesicht, die unglaublich schnell kömmt,
geht und wiederkehrt, wie das Ausmalen eines Nordlichtes über den Winter¬
himmel; dies ist vorzüglich der Fall, wenn sie singt, was jeden Nachmittag
zur Ergötzung des Papas geschieht. -- Das Fräulein singt schön, über ihre
Stimme bin ich sicher, daß sie voll, biegsam, aber von geringem Umfange ist,
da läßt sich ein Maßstab anlegen -- aber dieses seltsame Moduliren, diese kleinen,
nach der Schule verbotenen Vorschläge, dieser tief traurige Ton, der eher heiser
als klar, eher matt als kräftig, schwerlich Gnade auswärts fände, können viel¬
leicht nur für eiuen geborenen Laien, wie mich, den Eindruck von gewaltsam
Bewegenden machen; die Stimme ist schwach, aber schwach wie fernes Gewitter,
dessen verhaltene Kraft man fühlt -- tief, zitternd, wie eine sterbende Löwin:
es liegt etwas Außernatürliches in diesem Ton, sonderlich im Verhältniß zu
dem zarten Körper. Ich bin kein Arzt, aber wäre ich der Vater, ich ließe das
Fräulein nicht singen; unter jeder Pause stößt ein leiser Husten sie an, und ihre
Farbe wechselt, bis sie sich in rothen, kleinen Fleckchen festsetzt, die bis in die
Halskrause laufen -- mir wird todtangst dabei, und ich suche dem Gesänge oft
vorzubeugen."

Fügen wir gleich diesem scharfen, von einer seltenen objectiven Selbstbeob¬
achtung zeugenden Bilde die Charakteristik der äußeren Erscheinung Annelees
hinzu, die wir ihrem Freunde Levin Schücking verdanken: "Ihre seine Gestalt
mit den anmuthigen Bewegungen, ihr von einer reichen Fülle hellblonden Haars
umrahmter aristokratischer Kopf, der mit den merkwürdig fein gezeichneten Zügen
voll Geist und Anmuth doch durch die Uebergroße von Stirn und Ange nur
eine wunderliche Art von Schönheit haben konnte -- alles das mußte eine Er¬
scheinung von großer Anziehungskraft für feinere Naturen bilden." Und so finden
wir denn auch Annette in freundschaftlicher Verbindung mit hervorragenden
Frauen, wie mit Katharina Schücking, der Mutter Levin Schückings, die von
ihr später als Westfalens Dichterin gefeiert wurde, der Generalin von Thiel¬
mann, deren Schwester, Julie von Charpentier, die Braut von Novalis gewesen
war. In diese Zeit, da sie zum jungen Mädchen herangereift war, fällt ein
Ereigniß, dessen Folgen, wie wir zu behaupten uns berechtigt glauben, sich in
ihrem Gemüthsleben nie verwischt haben. Ein junger Arzt hatte ihr seine Liebe
geschenkt, und sie hatte dieselbe erwiedert. Aber die Ungleichheit der Verhältnisse
hier und dort, der Widerspruch ihrer Eltern trat ihrer Verbindung hindernd ent-


druck einer Seherin steigern, aber das geht vorüber, und dann bleibt nur etwas
Gutmüthiges und fast peinlich sittsames zurück; einen eigenen Reiz und gele¬
gentlichen Nichtreiz giebt ihr die Art ihres Teints, der für gewöhnlich bleich,
bis zur Entfärbung der Lippen, ganz vergessen macht, daß man ein Mädchen
vor sich hat — aber bei der kleiusten Erregung, geistiger, so wie körperlicher,
fliegt eine leichte Rothe über ihr ganzes Gesicht, die unglaublich schnell kömmt,
geht und wiederkehrt, wie das Ausmalen eines Nordlichtes über den Winter¬
himmel; dies ist vorzüglich der Fall, wenn sie singt, was jeden Nachmittag
zur Ergötzung des Papas geschieht. — Das Fräulein singt schön, über ihre
Stimme bin ich sicher, daß sie voll, biegsam, aber von geringem Umfange ist,
da läßt sich ein Maßstab anlegen — aber dieses seltsame Moduliren, diese kleinen,
nach der Schule verbotenen Vorschläge, dieser tief traurige Ton, der eher heiser
als klar, eher matt als kräftig, schwerlich Gnade auswärts fände, können viel¬
leicht nur für eiuen geborenen Laien, wie mich, den Eindruck von gewaltsam
Bewegenden machen; die Stimme ist schwach, aber schwach wie fernes Gewitter,
dessen verhaltene Kraft man fühlt — tief, zitternd, wie eine sterbende Löwin:
es liegt etwas Außernatürliches in diesem Ton, sonderlich im Verhältniß zu
dem zarten Körper. Ich bin kein Arzt, aber wäre ich der Vater, ich ließe das
Fräulein nicht singen; unter jeder Pause stößt ein leiser Husten sie an, und ihre
Farbe wechselt, bis sie sich in rothen, kleinen Fleckchen festsetzt, die bis in die
Halskrause laufen — mir wird todtangst dabei, und ich suche dem Gesänge oft
vorzubeugen."

Fügen wir gleich diesem scharfen, von einer seltenen objectiven Selbstbeob¬
achtung zeugenden Bilde die Charakteristik der äußeren Erscheinung Annelees
hinzu, die wir ihrem Freunde Levin Schücking verdanken: „Ihre seine Gestalt
mit den anmuthigen Bewegungen, ihr von einer reichen Fülle hellblonden Haars
umrahmter aristokratischer Kopf, der mit den merkwürdig fein gezeichneten Zügen
voll Geist und Anmuth doch durch die Uebergroße von Stirn und Ange nur
eine wunderliche Art von Schönheit haben konnte — alles das mußte eine Er¬
scheinung von großer Anziehungskraft für feinere Naturen bilden." Und so finden
wir denn auch Annette in freundschaftlicher Verbindung mit hervorragenden
Frauen, wie mit Katharina Schücking, der Mutter Levin Schückings, die von
ihr später als Westfalens Dichterin gefeiert wurde, der Generalin von Thiel¬
mann, deren Schwester, Julie von Charpentier, die Braut von Novalis gewesen
war. In diese Zeit, da sie zum jungen Mädchen herangereift war, fällt ein
Ereigniß, dessen Folgen, wie wir zu behaupten uns berechtigt glauben, sich in
ihrem Gemüthsleben nie verwischt haben. Ein junger Arzt hatte ihr seine Liebe
geschenkt, und sie hatte dieselbe erwiedert. Aber die Ungleichheit der Verhältnisse
hier und dort, der Widerspruch ihrer Eltern trat ihrer Verbindung hindernd ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/281>, abgerufen am 16.06.2024.