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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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türkische Truppen gedrungen. Die Pforte weigert sich dessen. In einem
Ministerrathe, der am 4. Mai stattfand, und dem der Sultan beiwohnte, gab
der Exgroßwessier Kheredin Pascha mit seiner Meinung den Ausschlag. Der¬
selbe erklärte Albanien fernerhin für unhaltbar für die Pforte. Das Verlangen
nach Selbstregierung habe die dort in Gang gekommene Bewegung hervorge¬
rufen. Man solle der Provinz die von ihr geforderte Autonomie gewähren und
aus ihr einen Staat machen, der zu der Pforte in einem Verhältnisse stehe
wie ehedem Serbien und Rumänien. Wolle man dem Verlangen der euro¬
päischen Mächte nach einer Intervention in Albanien willfahren, so werde man
damit nur den Beweis liefern, daß es unmöglich sei, der dort erwachten Be¬
wegung, die täglich mächtiger werde, Einhalt zu thun.

Das Cabinet von Se. James hat nun die Jnitative ergriffen, um in dieser
Sache wie in anderen Beziehungen die Durchführung des Berliner Vertrags
zu erwirken. Aber eine Action, die von Earl Granville eingeleitet wird, ver¬
spricht nicht viel Erfolg. Man wird sich von Seiten der übrigen Mächte wahr¬
scheinlich bereit erklären, auf seine Absichten einzugehen, aber das Ergebniß wird
kann: mehr als ein bescheidenes sein. Zu einer gemeinsamen militärischen
Execution wird man sich nicht entschließen, italienische Truppen wird Oesterreich-
Ungarn, französische England nicht ohne große Beunruhigung in Albanien sehen
können. So scheint nichts übrig zu bleiben, als die Anwendung diplomatischer
Mittel, zuletzt der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Pforte. Aber
auch das wird nichts helfen, und während man in den Cabineten deliberirt,
geht die Entwicklung der Dinge in den Bergen Albaniens mit raschen Schritten
weiter. Die Liga ist fest organisirt, Christen und Muhamedaner scheinen sich
ihr ausnahmslos angeschlossen zu haben, und seit einigen Wochen geht eine
Proclamation durch das Land, welche folgende Punkte vom Sultan zu ver¬
langen auffordert: 1. Innere Autonomie, die ganz Albanien umfaßt, 2. Be¬
stätigung des von der Liga gewählten erblichen Fürsten (man nennt als solchen
Ali Pascha von Gusinje) durch die fortan nur noch suzeräne Pforte, 3. Be¬
stimmung des Tributs, den die Albanesen ihrem Suzerän jährlich zu zahlen
bereit sind, 4. Festsetzung der Zahl der Hilfstruppen, die sie ihm für den Fall
eines Krieges mit fremden Mächten stellen wollen, 5. Zurückziehung aller otto¬
manischen Soldaten aus den Festungen und Schlössern des Landes, 6. Er¬
nennung eines albanesischen Geschäftsträgers als Vertreters bei der Pforte,
7. Ersetzung der türkischen Beamten in Albanien durch eingeborene, vom natio¬
nalen Fürsten ernannte. So nimmt die Bewegung eine bestimmte Gestalt und
Richtung an, und zu gleicher Zeit organisirt sich die Militärmacht des Landes.
In Unteralbanien sollen schon 12000 Mann auf die Beine gebracht sein, von
denen die Hälfte nach dem Norden abmarschirt ist. Die übrigen halten die


türkische Truppen gedrungen. Die Pforte weigert sich dessen. In einem
Ministerrathe, der am 4. Mai stattfand, und dem der Sultan beiwohnte, gab
der Exgroßwessier Kheredin Pascha mit seiner Meinung den Ausschlag. Der¬
selbe erklärte Albanien fernerhin für unhaltbar für die Pforte. Das Verlangen
nach Selbstregierung habe die dort in Gang gekommene Bewegung hervorge¬
rufen. Man solle der Provinz die von ihr geforderte Autonomie gewähren und
aus ihr einen Staat machen, der zu der Pforte in einem Verhältnisse stehe
wie ehedem Serbien und Rumänien. Wolle man dem Verlangen der euro¬
päischen Mächte nach einer Intervention in Albanien willfahren, so werde man
damit nur den Beweis liefern, daß es unmöglich sei, der dort erwachten Be¬
wegung, die täglich mächtiger werde, Einhalt zu thun.

Das Cabinet von Se. James hat nun die Jnitative ergriffen, um in dieser
Sache wie in anderen Beziehungen die Durchführung des Berliner Vertrags
zu erwirken. Aber eine Action, die von Earl Granville eingeleitet wird, ver¬
spricht nicht viel Erfolg. Man wird sich von Seiten der übrigen Mächte wahr¬
scheinlich bereit erklären, auf seine Absichten einzugehen, aber das Ergebniß wird
kann: mehr als ein bescheidenes sein. Zu einer gemeinsamen militärischen
Execution wird man sich nicht entschließen, italienische Truppen wird Oesterreich-
Ungarn, französische England nicht ohne große Beunruhigung in Albanien sehen
können. So scheint nichts übrig zu bleiben, als die Anwendung diplomatischer
Mittel, zuletzt der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Pforte. Aber
auch das wird nichts helfen, und während man in den Cabineten deliberirt,
geht die Entwicklung der Dinge in den Bergen Albaniens mit raschen Schritten
weiter. Die Liga ist fest organisirt, Christen und Muhamedaner scheinen sich
ihr ausnahmslos angeschlossen zu haben, und seit einigen Wochen geht eine
Proclamation durch das Land, welche folgende Punkte vom Sultan zu ver¬
langen auffordert: 1. Innere Autonomie, die ganz Albanien umfaßt, 2. Be¬
stätigung des von der Liga gewählten erblichen Fürsten (man nennt als solchen
Ali Pascha von Gusinje) durch die fortan nur noch suzeräne Pforte, 3. Be¬
stimmung des Tributs, den die Albanesen ihrem Suzerän jährlich zu zahlen
bereit sind, 4. Festsetzung der Zahl der Hilfstruppen, die sie ihm für den Fall
eines Krieges mit fremden Mächten stellen wollen, 5. Zurückziehung aller otto¬
manischen Soldaten aus den Festungen und Schlössern des Landes, 6. Er¬
nennung eines albanesischen Geschäftsträgers als Vertreters bei der Pforte,
7. Ersetzung der türkischen Beamten in Albanien durch eingeborene, vom natio¬
nalen Fürsten ernannte. So nimmt die Bewegung eine bestimmte Gestalt und
Richtung an, und zu gleicher Zeit organisirt sich die Militärmacht des Landes.
In Unteralbanien sollen schon 12000 Mann auf die Beine gebracht sein, von
denen die Hälfte nach dem Norden abmarschirt ist. Die übrigen halten die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/362>, abgerufen am 16.06.2024.