Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

schwachen türkischen Garnisonen in Schach, und so hat die Liga Raum und
Macht, ihre seperatistischen Pläne kräftig zu fördern.

Die Consuln der europäischen Mächte sollen die Albanesen zur Ruhe gemahnt
haben. Letztere dagegen sollen -- man weiß nicht, auf welche Anzeichen oder
Ermuthigungen hin -- überzeugt fein, daß Europa, wenn sie ihren Gegnern be¬
harrlich stand halten und sich passend organisiren, ihre Autonomie unter der
Oberhoheit der Pforte schließlich anerkennen werde. Was ihren Streit mit
Montenegro betrifft, so hat ihnen der Berliner Congreß Unrecht gethan. Es
.war die Gönnerschaft Rußlands, welche die dort versammelten Diplomaten be¬
wog, dein Fürsten nitida sein Gebiet mit albanesischen Lande abzurunden, dessen
Bewohner ihm nicht unterthänig sein wollen und auch jetzt dazu nicht entfernt
geneigt sind. Daß ein Theil der europäischen Diplomatie die Weigerung der
Albanesen mit Verdruß betrachtet, ist begreiflich genug Die Albanesen lehnen sich
weniger gegen den Sultan als gegen Europa auf, und es erscheint als eine
dreiste Unzulässigkeit, als Unfug und Unnatur, daß ein winziges und noch dazu
halbbarbarisches Volk einem internationalen Vertrage seine Anerkennung versagt.
Aber man muß zugestehen, daß "Europa" in diesem Streite nur ein conventio-
nelles und formales Recht für seine Auffassung geltend machen kann, das Natur¬
recht; das sittliche Recht befindet sich diesmal nicht auf der Seite der Civilisation,
sondern steht auf der Fahne der Barbaren, die sich zur albanesischen Liga ver¬
bunden haben.

Wir sind der Meinung, daß die Diplomatie großmüthig handeln, von
ihrem Rechte absehen und die albanesische Unabhängigkeit wo nicht anerkennen,
doch stillschweigend dulden, daneben aber es Montenegro überlassen sollte, sich
das, was es für sein hält, selbst zu erkämpfen. Wir glauben, daß ein solcher
Entschluß der einen und der anderen Macht um so leichter werden müßte,
als ihn Rücksichten der Opportunität, soweit wir sehen, nicht widerrathen
lassen. Rußland mag Grund haben, die Bestrebungen der Albanesen, die nicht
Slaven sind, und die eine unauslöschliche Abneigung vor seinem Schützling in
der Czernagora hegen, mit Mißgunst zu betrachten. Oesterreich-Ungarn aber hat
kaum Ursache, mit Besorgniß auf den Drang der Skipetarenstämme nach Selb¬
ständigkeit und auf deren Widerstand gegen die Vergrößerung Montenegros
auf Kosten ihres Landes zu blicken; denn diese Stämme würden, gut organisirt
und allmählich der Gesittung gewonnen, ihm mindestens ebenso gute Nachbarn
sein als die vergrößerte Czernagora mit ihrer Neigung zum weißen Zaren und
ihren Bestrebungen nach weiterer Vergrößerung durch slavische Landstriche.


D


schwachen türkischen Garnisonen in Schach, und so hat die Liga Raum und
Macht, ihre seperatistischen Pläne kräftig zu fördern.

Die Consuln der europäischen Mächte sollen die Albanesen zur Ruhe gemahnt
haben. Letztere dagegen sollen — man weiß nicht, auf welche Anzeichen oder
Ermuthigungen hin — überzeugt fein, daß Europa, wenn sie ihren Gegnern be¬
harrlich stand halten und sich passend organisiren, ihre Autonomie unter der
Oberhoheit der Pforte schließlich anerkennen werde. Was ihren Streit mit
Montenegro betrifft, so hat ihnen der Berliner Congreß Unrecht gethan. Es
.war die Gönnerschaft Rußlands, welche die dort versammelten Diplomaten be¬
wog, dein Fürsten nitida sein Gebiet mit albanesischen Lande abzurunden, dessen
Bewohner ihm nicht unterthänig sein wollen und auch jetzt dazu nicht entfernt
geneigt sind. Daß ein Theil der europäischen Diplomatie die Weigerung der
Albanesen mit Verdruß betrachtet, ist begreiflich genug Die Albanesen lehnen sich
weniger gegen den Sultan als gegen Europa auf, und es erscheint als eine
dreiste Unzulässigkeit, als Unfug und Unnatur, daß ein winziges und noch dazu
halbbarbarisches Volk einem internationalen Vertrage seine Anerkennung versagt.
Aber man muß zugestehen, daß „Europa" in diesem Streite nur ein conventio-
nelles und formales Recht für seine Auffassung geltend machen kann, das Natur¬
recht; das sittliche Recht befindet sich diesmal nicht auf der Seite der Civilisation,
sondern steht auf der Fahne der Barbaren, die sich zur albanesischen Liga ver¬
bunden haben.

Wir sind der Meinung, daß die Diplomatie großmüthig handeln, von
ihrem Rechte absehen und die albanesische Unabhängigkeit wo nicht anerkennen,
doch stillschweigend dulden, daneben aber es Montenegro überlassen sollte, sich
das, was es für sein hält, selbst zu erkämpfen. Wir glauben, daß ein solcher
Entschluß der einen und der anderen Macht um so leichter werden müßte,
als ihn Rücksichten der Opportunität, soweit wir sehen, nicht widerrathen
lassen. Rußland mag Grund haben, die Bestrebungen der Albanesen, die nicht
Slaven sind, und die eine unauslöschliche Abneigung vor seinem Schützling in
der Czernagora hegen, mit Mißgunst zu betrachten. Oesterreich-Ungarn aber hat
kaum Ursache, mit Besorgniß auf den Drang der Skipetarenstämme nach Selb¬
ständigkeit und auf deren Widerstand gegen die Vergrößerung Montenegros
auf Kosten ihres Landes zu blicken; denn diese Stämme würden, gut organisirt
und allmählich der Gesittung gewonnen, ihm mindestens ebenso gute Nachbarn
sein als die vergrößerte Czernagora mit ihrer Neigung zum weißen Zaren und
ihren Bestrebungen nach weiterer Vergrößerung durch slavische Landstriche.


D


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146868"/>
          <p xml:id="ID_1057" prev="#ID_1056"> schwachen türkischen Garnisonen in Schach, und so hat die Liga Raum und<lb/>
Macht, ihre seperatistischen Pläne kräftig zu fördern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1058"> Die Consuln der europäischen Mächte sollen die Albanesen zur Ruhe gemahnt<lb/>
haben. Letztere dagegen sollen &#x2014; man weiß nicht, auf welche Anzeichen oder<lb/>
Ermuthigungen hin &#x2014; überzeugt fein, daß Europa, wenn sie ihren Gegnern be¬<lb/>
harrlich stand halten und sich passend organisiren, ihre Autonomie unter der<lb/>
Oberhoheit der Pforte schließlich anerkennen werde. Was ihren Streit mit<lb/>
Montenegro betrifft, so hat ihnen der Berliner Congreß Unrecht gethan. Es<lb/>
.war die Gönnerschaft Rußlands, welche die dort versammelten Diplomaten be¬<lb/>
wog, dein Fürsten nitida sein Gebiet mit albanesischen Lande abzurunden, dessen<lb/>
Bewohner ihm nicht unterthänig sein wollen und auch jetzt dazu nicht entfernt<lb/>
geneigt sind. Daß ein Theil der europäischen Diplomatie die Weigerung der<lb/>
Albanesen mit Verdruß betrachtet, ist begreiflich genug Die Albanesen lehnen sich<lb/>
weniger gegen den Sultan als gegen Europa auf, und es erscheint als eine<lb/>
dreiste Unzulässigkeit, als Unfug und Unnatur, daß ein winziges und noch dazu<lb/>
halbbarbarisches Volk einem internationalen Vertrage seine Anerkennung versagt.<lb/>
Aber man muß zugestehen, daß &#x201E;Europa" in diesem Streite nur ein conventio-<lb/>
nelles und formales Recht für seine Auffassung geltend machen kann, das Natur¬<lb/>
recht; das sittliche Recht befindet sich diesmal nicht auf der Seite der Civilisation,<lb/>
sondern steht auf der Fahne der Barbaren, die sich zur albanesischen Liga ver¬<lb/>
bunden haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1059"> Wir sind der Meinung, daß die Diplomatie großmüthig handeln, von<lb/>
ihrem Rechte absehen und die albanesische Unabhängigkeit wo nicht anerkennen,<lb/>
doch stillschweigend dulden, daneben aber es Montenegro überlassen sollte, sich<lb/>
das, was es für sein hält, selbst zu erkämpfen. Wir glauben, daß ein solcher<lb/>
Entschluß der einen und der anderen Macht um so leichter werden müßte,<lb/>
als ihn Rücksichten der Opportunität, soweit wir sehen, nicht widerrathen<lb/>
lassen. Rußland mag Grund haben, die Bestrebungen der Albanesen, die nicht<lb/>
Slaven sind, und die eine unauslöschliche Abneigung vor seinem Schützling in<lb/>
der Czernagora hegen, mit Mißgunst zu betrachten. Oesterreich-Ungarn aber hat<lb/>
kaum Ursache, mit Besorgniß auf den Drang der Skipetarenstämme nach Selb¬<lb/>
ständigkeit und auf deren Widerstand gegen die Vergrößerung Montenegros<lb/>
auf Kosten ihres Landes zu blicken; denn diese Stämme würden, gut organisirt<lb/>
und allmählich der Gesittung gewonnen, ihm mindestens ebenso gute Nachbarn<lb/>
sein als die vergrößerte Czernagora mit ihrer Neigung zum weißen Zaren und<lb/>
ihren Bestrebungen nach weiterer Vergrößerung durch slavische Landstriche.</p><lb/>
          <note type="byline"> D</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0363] schwachen türkischen Garnisonen in Schach, und so hat die Liga Raum und Macht, ihre seperatistischen Pläne kräftig zu fördern. Die Consuln der europäischen Mächte sollen die Albanesen zur Ruhe gemahnt haben. Letztere dagegen sollen — man weiß nicht, auf welche Anzeichen oder Ermuthigungen hin — überzeugt fein, daß Europa, wenn sie ihren Gegnern be¬ harrlich stand halten und sich passend organisiren, ihre Autonomie unter der Oberhoheit der Pforte schließlich anerkennen werde. Was ihren Streit mit Montenegro betrifft, so hat ihnen der Berliner Congreß Unrecht gethan. Es .war die Gönnerschaft Rußlands, welche die dort versammelten Diplomaten be¬ wog, dein Fürsten nitida sein Gebiet mit albanesischen Lande abzurunden, dessen Bewohner ihm nicht unterthänig sein wollen und auch jetzt dazu nicht entfernt geneigt sind. Daß ein Theil der europäischen Diplomatie die Weigerung der Albanesen mit Verdruß betrachtet, ist begreiflich genug Die Albanesen lehnen sich weniger gegen den Sultan als gegen Europa auf, und es erscheint als eine dreiste Unzulässigkeit, als Unfug und Unnatur, daß ein winziges und noch dazu halbbarbarisches Volk einem internationalen Vertrage seine Anerkennung versagt. Aber man muß zugestehen, daß „Europa" in diesem Streite nur ein conventio- nelles und formales Recht für seine Auffassung geltend machen kann, das Natur¬ recht; das sittliche Recht befindet sich diesmal nicht auf der Seite der Civilisation, sondern steht auf der Fahne der Barbaren, die sich zur albanesischen Liga ver¬ bunden haben. Wir sind der Meinung, daß die Diplomatie großmüthig handeln, von ihrem Rechte absehen und die albanesische Unabhängigkeit wo nicht anerkennen, doch stillschweigend dulden, daneben aber es Montenegro überlassen sollte, sich das, was es für sein hält, selbst zu erkämpfen. Wir glauben, daß ein solcher Entschluß der einen und der anderen Macht um so leichter werden müßte, als ihn Rücksichten der Opportunität, soweit wir sehen, nicht widerrathen lassen. Rußland mag Grund haben, die Bestrebungen der Albanesen, die nicht Slaven sind, und die eine unauslöschliche Abneigung vor seinem Schützling in der Czernagora hegen, mit Mißgunst zu betrachten. Oesterreich-Ungarn aber hat kaum Ursache, mit Besorgniß auf den Drang der Skipetarenstämme nach Selb¬ ständigkeit und auf deren Widerstand gegen die Vergrößerung Montenegros auf Kosten ihres Landes zu blicken; denn diese Stämme würden, gut organisirt und allmählich der Gesittung gewonnen, ihm mindestens ebenso gute Nachbarn sein als die vergrößerte Czernagora mit ihrer Neigung zum weißen Zaren und ihren Bestrebungen nach weiterer Vergrößerung durch slavische Landstriche. D

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/363
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/363>, abgerufen am 24.05.2024.