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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Erweiterung des Rahmens der Feldarmee, theils durch Vermehrung der aus¬
gebildeten Mannschaften.

Es wäre eine Uebertreibung, die wirkungslos zu Boden fallen müßte, wenn
jemand behaupten wollte, Deutschland könne die ihm jetzt zugemuthete Steige¬
rung der Kriegslast nicht ertragen. Weder können ein Dutzend neue Regimenter
und einige Dutzend neue Batterien unsere Finanzen ruiniren, noch werden die
Uebungen der jüngeren Ersatzreservisten uns unsere Werkstätten und Schreib¬
stuben veröden. Dennoch hat die neue Vorlage wie ein Schreck gewirkt, der
vielen Leuten in die Glieder gefahren ist. Man ist erschrocken nicht über das
Maß der nunmehr zu tragenden Last, sondern über die Aussicht, die Last ins
Unbegrenzte wachsen zu sehen, nachdem man geglaubt hatte, einen unüberschreit-
baren Punkt erreicht zu haben. Der Schrecken ist mehr ein psychologischer als
ein physischer, hat eine Vorstellung und nicht einen sinnlichen Eindruck zur
Ursache. Wer den Schrecken heilen will, muß die Vorstellung des unendlichen
Wachsens der Militärlast heilen. Ist diese Vorstellung heilbar? Vorstellungen
heilt man durch Besprechen, was bei physischen Uebeln eine Gaukelei ist, ob¬
wohl sie ja oft genug auch dort angewandt worden.

Die Erschrockenen fragen: Wo liegt die Grenze der Friedensrüstungen, in
denen sich alle Staaten überbieten? Man wird nicht eher damit aufhören
können, als bis der letzte Mann und das letzte Pferd dem Kriegszwecke unter-
thänig gemacht worden ist; vorher aber wird man den Bankerott, die Erschöp¬
fung der Volkswirthschaft in einem Grade herbeiführen, von dem sie sich nie
wieder erholen wird. Dies ist die schreckenerregende Vorstellung.

Hier ist die Besprechung: Die Staaten rüsten, nicht weil jeder mit einem
ins Blaue gerichteten Streben der Stärkste sein will, sondern sie rüsten, weil
sie den augenblicklichen Zustand Europas noch nicht für definitiv halten. Die
Unzufriedenen hoffen diesen Zustand noch in ihrem Sinne zu wenden, die Zu¬
friedenen glauben sich bereit halten zu müssen, einen letzten Angriff auf ihren
Besitzstand abzuschlagen, bevor ihnen derselbe nicht mehr bestritten wird. Das
ist die Lage. Wer der europäischen Welt das Gefühl der Nothwendigkeit des
jetzigen Zustandes geben könnte, der würde sie auf lange von übermäßiger
Kriegsbereitschaft befreien. Die Lage wäre nur dann verzweifelt, wenn wir
verzweifeln müßten, dieses Gefühl jemals sich ausbreiten zu sehen. Dazu ist
jedoch kein Grund. Dem jetzigen Zustande fehlt der Glaube einer definitiven
Ordnung vornehmlich darum, weil noch nicht alle Combinationen, ihn zu ändern,
erschöpft sind. Diese Combinationen haben sich vermindert, seitdem dem Fürsten
Bismarck das unendlich heilsame Werk gelungen, Oesterreich-Ungarn unter die
Bürgen des jetzigen Zustandes zu stellen und die Lebenskraft des jetzigen Zu¬
standes zum Bürgen der Interessen Oesterreich-Ungarns zu machen. Aber eine


Erweiterung des Rahmens der Feldarmee, theils durch Vermehrung der aus¬
gebildeten Mannschaften.

Es wäre eine Uebertreibung, die wirkungslos zu Boden fallen müßte, wenn
jemand behaupten wollte, Deutschland könne die ihm jetzt zugemuthete Steige¬
rung der Kriegslast nicht ertragen. Weder können ein Dutzend neue Regimenter
und einige Dutzend neue Batterien unsere Finanzen ruiniren, noch werden die
Uebungen der jüngeren Ersatzreservisten uns unsere Werkstätten und Schreib¬
stuben veröden. Dennoch hat die neue Vorlage wie ein Schreck gewirkt, der
vielen Leuten in die Glieder gefahren ist. Man ist erschrocken nicht über das
Maß der nunmehr zu tragenden Last, sondern über die Aussicht, die Last ins
Unbegrenzte wachsen zu sehen, nachdem man geglaubt hatte, einen unüberschreit-
baren Punkt erreicht zu haben. Der Schrecken ist mehr ein psychologischer als
ein physischer, hat eine Vorstellung und nicht einen sinnlichen Eindruck zur
Ursache. Wer den Schrecken heilen will, muß die Vorstellung des unendlichen
Wachsens der Militärlast heilen. Ist diese Vorstellung heilbar? Vorstellungen
heilt man durch Besprechen, was bei physischen Uebeln eine Gaukelei ist, ob¬
wohl sie ja oft genug auch dort angewandt worden.

Die Erschrockenen fragen: Wo liegt die Grenze der Friedensrüstungen, in
denen sich alle Staaten überbieten? Man wird nicht eher damit aufhören
können, als bis der letzte Mann und das letzte Pferd dem Kriegszwecke unter-
thänig gemacht worden ist; vorher aber wird man den Bankerott, die Erschöp¬
fung der Volkswirthschaft in einem Grade herbeiführen, von dem sie sich nie
wieder erholen wird. Dies ist die schreckenerregende Vorstellung.

Hier ist die Besprechung: Die Staaten rüsten, nicht weil jeder mit einem
ins Blaue gerichteten Streben der Stärkste sein will, sondern sie rüsten, weil
sie den augenblicklichen Zustand Europas noch nicht für definitiv halten. Die
Unzufriedenen hoffen diesen Zustand noch in ihrem Sinne zu wenden, die Zu¬
friedenen glauben sich bereit halten zu müssen, einen letzten Angriff auf ihren
Besitzstand abzuschlagen, bevor ihnen derselbe nicht mehr bestritten wird. Das
ist die Lage. Wer der europäischen Welt das Gefühl der Nothwendigkeit des
jetzigen Zustandes geben könnte, der würde sie auf lange von übermäßiger
Kriegsbereitschaft befreien. Die Lage wäre nur dann verzweifelt, wenn wir
verzweifeln müßten, dieses Gefühl jemals sich ausbreiten zu sehen. Dazu ist
jedoch kein Grund. Dem jetzigen Zustande fehlt der Glaube einer definitiven
Ordnung vornehmlich darum, weil noch nicht alle Combinationen, ihn zu ändern,
erschöpft sind. Diese Combinationen haben sich vermindert, seitdem dem Fürsten
Bismarck das unendlich heilsame Werk gelungen, Oesterreich-Ungarn unter die
Bürgen des jetzigen Zustandes zu stellen und die Lebenskraft des jetzigen Zu¬
standes zum Bürgen der Interessen Oesterreich-Ungarns zu machen. Aber eine


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[0223] Erweiterung des Rahmens der Feldarmee, theils durch Vermehrung der aus¬ gebildeten Mannschaften. Es wäre eine Uebertreibung, die wirkungslos zu Boden fallen müßte, wenn jemand behaupten wollte, Deutschland könne die ihm jetzt zugemuthete Steige¬ rung der Kriegslast nicht ertragen. Weder können ein Dutzend neue Regimenter und einige Dutzend neue Batterien unsere Finanzen ruiniren, noch werden die Uebungen der jüngeren Ersatzreservisten uns unsere Werkstätten und Schreib¬ stuben veröden. Dennoch hat die neue Vorlage wie ein Schreck gewirkt, der vielen Leuten in die Glieder gefahren ist. Man ist erschrocken nicht über das Maß der nunmehr zu tragenden Last, sondern über die Aussicht, die Last ins Unbegrenzte wachsen zu sehen, nachdem man geglaubt hatte, einen unüberschreit- baren Punkt erreicht zu haben. Der Schrecken ist mehr ein psychologischer als ein physischer, hat eine Vorstellung und nicht einen sinnlichen Eindruck zur Ursache. Wer den Schrecken heilen will, muß die Vorstellung des unendlichen Wachsens der Militärlast heilen. Ist diese Vorstellung heilbar? Vorstellungen heilt man durch Besprechen, was bei physischen Uebeln eine Gaukelei ist, ob¬ wohl sie ja oft genug auch dort angewandt worden. Die Erschrockenen fragen: Wo liegt die Grenze der Friedensrüstungen, in denen sich alle Staaten überbieten? Man wird nicht eher damit aufhören können, als bis der letzte Mann und das letzte Pferd dem Kriegszwecke unter- thänig gemacht worden ist; vorher aber wird man den Bankerott, die Erschöp¬ fung der Volkswirthschaft in einem Grade herbeiführen, von dem sie sich nie wieder erholen wird. Dies ist die schreckenerregende Vorstellung. Hier ist die Besprechung: Die Staaten rüsten, nicht weil jeder mit einem ins Blaue gerichteten Streben der Stärkste sein will, sondern sie rüsten, weil sie den augenblicklichen Zustand Europas noch nicht für definitiv halten. Die Unzufriedenen hoffen diesen Zustand noch in ihrem Sinne zu wenden, die Zu¬ friedenen glauben sich bereit halten zu müssen, einen letzten Angriff auf ihren Besitzstand abzuschlagen, bevor ihnen derselbe nicht mehr bestritten wird. Das ist die Lage. Wer der europäischen Welt das Gefühl der Nothwendigkeit des jetzigen Zustandes geben könnte, der würde sie auf lange von übermäßiger Kriegsbereitschaft befreien. Die Lage wäre nur dann verzweifelt, wenn wir verzweifeln müßten, dieses Gefühl jemals sich ausbreiten zu sehen. Dazu ist jedoch kein Grund. Dem jetzigen Zustande fehlt der Glaube einer definitiven Ordnung vornehmlich darum, weil noch nicht alle Combinationen, ihn zu ändern, erschöpft sind. Diese Combinationen haben sich vermindert, seitdem dem Fürsten Bismarck das unendlich heilsame Werk gelungen, Oesterreich-Ungarn unter die Bürgen des jetzigen Zustandes zu stellen und die Lebenskraft des jetzigen Zu¬ standes zum Bürgen der Interessen Oesterreich-Ungarns zu machen. Aber eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/223>, abgerufen am 17.06.2024.