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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Freihändlerische Kathederweisheit.

Soviel uns bekannt, gab es bisher kein Buch, welches die nationale Zoll¬
politik, wie sie Fürst Bismarck inaugurirt hat, und deren Gegentheil, die kosmo¬
politische Freihandelstheorie, eingehend in wissenschaftlicher Weise kritisirt und
erstere zu rechtfertigen unternommen hätte. Jetzt ist die erste Hälfte einer Schrift
erschienen, welche sich als ein solcher Versuch charakterisirt") und nach den bis
jetzt vorliegenden Kapiteln jedenfalls Anspruch auf Beachtung hat. Soweit der
Verfasser kritisch verfährt, stimmen wir ihm in der Hauptsache bei, ohne den
mitunter allzuschroffen Ton, dessen er sich bedient, allenthalben zu billigen. Er
zeigt uns aber nicht nur die Blößen und Schwächen der wirthschaftlichen Mode¬
lehre, sondern geht auch daran, ein eignes System auszustellen, und hier ver¬
mögen wir uns ihm, soweit sich bis jetzt urtheilen läßt, nur bis zu einem ge¬
wissen Grade anzuschließen. Die Basis seiner, beiläufig nicht systematisch zu
Werke gehenden und vielfältig vom eigentlichen Thema abspringenden Betrach¬
tung ist das Gesetz der Erhaltung und Vermehrung der productiven Kräfte,
welches er aus der Beobachtung der Natur und ihrer Entwicklung ableitet.
Zugleich aber versucht er nachzuweisen, daß nicht einzig und allein die Selbst¬
sucht das Motiv der wirthschaftlichen Thätigkeit bilde, sondern daß dieselbe,
namentlich da, wo sie sich im kaufmännischen Calcül bekundet, nur eine Form
des menschlichen Erhaltungstriebes sei. Aus diesem leitet er nicht bloß die
Familie, das Eigenthum, das Recht, den Staat, sondern auch -- Moral und
Religion ab, was wir nicht billigen können. Dagegen ist er offenbar im Rechte,
wenn er behauptet, daß wegen der Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich
der Erhaltungstrieb äußert, und wegen der Unberechenbarkeit des im thierischen
Menschen waltenden geistigen Menschen es ein verfehltes Beginnen sei, die Er¬
scheinungen des wirthschaftlichen Lebens von Gesetzen regiert werden zu lassen,



*) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen Wirthschasts-
politik. Ein Handbuch für das deutsche Volk von Oswald Stein. Bern und Leipzig,
G, Frobecn K Comp,, 1880.
Grenzboten I. 1880. 33
Freihändlerische Kathederweisheit.

Soviel uns bekannt, gab es bisher kein Buch, welches die nationale Zoll¬
politik, wie sie Fürst Bismarck inaugurirt hat, und deren Gegentheil, die kosmo¬
politische Freihandelstheorie, eingehend in wissenschaftlicher Weise kritisirt und
erstere zu rechtfertigen unternommen hätte. Jetzt ist die erste Hälfte einer Schrift
erschienen, welche sich als ein solcher Versuch charakterisirt") und nach den bis
jetzt vorliegenden Kapiteln jedenfalls Anspruch auf Beachtung hat. Soweit der
Verfasser kritisch verfährt, stimmen wir ihm in der Hauptsache bei, ohne den
mitunter allzuschroffen Ton, dessen er sich bedient, allenthalben zu billigen. Er
zeigt uns aber nicht nur die Blößen und Schwächen der wirthschaftlichen Mode¬
lehre, sondern geht auch daran, ein eignes System auszustellen, und hier ver¬
mögen wir uns ihm, soweit sich bis jetzt urtheilen läßt, nur bis zu einem ge¬
wissen Grade anzuschließen. Die Basis seiner, beiläufig nicht systematisch zu
Werke gehenden und vielfältig vom eigentlichen Thema abspringenden Betrach¬
tung ist das Gesetz der Erhaltung und Vermehrung der productiven Kräfte,
welches er aus der Beobachtung der Natur und ihrer Entwicklung ableitet.
Zugleich aber versucht er nachzuweisen, daß nicht einzig und allein die Selbst¬
sucht das Motiv der wirthschaftlichen Thätigkeit bilde, sondern daß dieselbe,
namentlich da, wo sie sich im kaufmännischen Calcül bekundet, nur eine Form
des menschlichen Erhaltungstriebes sei. Aus diesem leitet er nicht bloß die
Familie, das Eigenthum, das Recht, den Staat, sondern auch — Moral und
Religion ab, was wir nicht billigen können. Dagegen ist er offenbar im Rechte,
wenn er behauptet, daß wegen der Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich
der Erhaltungstrieb äußert, und wegen der Unberechenbarkeit des im thierischen
Menschen waltenden geistigen Menschen es ein verfehltes Beginnen sei, die Er¬
scheinungen des wirthschaftlichen Lebens von Gesetzen regiert werden zu lassen,



*) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen Wirthschasts-
politik. Ein Handbuch für das deutsche Volk von Oswald Stein. Bern und Leipzig,
G, Frobecn K Comp,, 1880.
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[0265] Freihändlerische Kathederweisheit. Soviel uns bekannt, gab es bisher kein Buch, welches die nationale Zoll¬ politik, wie sie Fürst Bismarck inaugurirt hat, und deren Gegentheil, die kosmo¬ politische Freihandelstheorie, eingehend in wissenschaftlicher Weise kritisirt und erstere zu rechtfertigen unternommen hätte. Jetzt ist die erste Hälfte einer Schrift erschienen, welche sich als ein solcher Versuch charakterisirt") und nach den bis jetzt vorliegenden Kapiteln jedenfalls Anspruch auf Beachtung hat. Soweit der Verfasser kritisch verfährt, stimmen wir ihm in der Hauptsache bei, ohne den mitunter allzuschroffen Ton, dessen er sich bedient, allenthalben zu billigen. Er zeigt uns aber nicht nur die Blößen und Schwächen der wirthschaftlichen Mode¬ lehre, sondern geht auch daran, ein eignes System auszustellen, und hier ver¬ mögen wir uns ihm, soweit sich bis jetzt urtheilen läßt, nur bis zu einem ge¬ wissen Grade anzuschließen. Die Basis seiner, beiläufig nicht systematisch zu Werke gehenden und vielfältig vom eigentlichen Thema abspringenden Betrach¬ tung ist das Gesetz der Erhaltung und Vermehrung der productiven Kräfte, welches er aus der Beobachtung der Natur und ihrer Entwicklung ableitet. Zugleich aber versucht er nachzuweisen, daß nicht einzig und allein die Selbst¬ sucht das Motiv der wirthschaftlichen Thätigkeit bilde, sondern daß dieselbe, namentlich da, wo sie sich im kaufmännischen Calcül bekundet, nur eine Form des menschlichen Erhaltungstriebes sei. Aus diesem leitet er nicht bloß die Familie, das Eigenthum, das Recht, den Staat, sondern auch — Moral und Religion ab, was wir nicht billigen können. Dagegen ist er offenbar im Rechte, wenn er behauptet, daß wegen der Mannigfaltigkeit der Formen, in denen sich der Erhaltungstrieb äußert, und wegen der Unberechenbarkeit des im thierischen Menschen waltenden geistigen Menschen es ein verfehltes Beginnen sei, die Er¬ scheinungen des wirthschaftlichen Lebens von Gesetzen regiert werden zu lassen, *) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen Wirthschasts- politik. Ein Handbuch für das deutsche Volk von Oswald Stein. Bern und Leipzig, G, Frobecn K Comp,, 1880. Grenzboten I. 1880. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/265>, abgerufen am 26.05.2024.