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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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die mit Naturnotwendigkeit wirken, und wenn er die Nationalökonomie nicht
als die materialistische Lehre von der Erzeugung, der Vertheilung und dem
Verbrauche der Tauschwerthe, sondern als Philosophie der Gesellschaft auffaßt
und zu diesem Behufe die Entstehung der wirthschaftlichen Theorien in stetem
Zusammenhange mit der Staaten- und Völkergeschichte und der ganzen Ge-
dankenrichtung der jeweiligen Epochen erklärt.

Wir behalten uns vor, auf das Buch zurückzukommen, wenn es abgeschlossen
vorliegen wird. -Für heute geben wir in einem Auszuge aus dem fünften Kapitel
eine Probe von dem, was wir uns von den Urtheilen des Verfassers über die
deutschen Freihändler, namentlich über die auf dem Katheder wirkenden unge¬
fähr aneignen können.

Der Vater der Freihandelstheorie ist bekanntlich Adam Smith. Sein
System hat die Denkart des Kaufmanns zur Grundlage. Zweck und Ziel der
wirthschaftlichen Thätigkeit ist die Mehrung der Tauschwerthe. Die Volkswirth¬
schaft erscheint als Inbegriff aller Privatwirthschaften; Privatvortheil und Ge¬
meinvortheil decken sich, und die Summe der privaten Tauschwerthe macht den
Nationalreichthum aus. Die privaten Wirthschaften wissen am besten, was
ihnen nützt, also muß man sie gewähren lassen; denn ihr Gewinn ist eben auch
der Gewinn des Gemeinwesens. Die Anerkennung eines selbständigen morali¬
schen Sinnes war mit dieser Anschauung nicht vereinbar, und so beschwichtigte
Smith die Bedenken gegen den utilitarischen Calcül mit der Behauptung, daß
die Selbstsucht des Einzelnen im Egoismus aller Andern ihre Schranke finde
und die Regulirung sich so ganz von selbst mache. Zudem stimmte diese Theorie
des nackten Egoismus mit der philanthropischen und kosmopolitischen Richtung
des achtzehnten Jahrhunderts, die in dem Satze der Encyklopädie gipfelt: "Die
Wohlfahrt des Individuums ist auch die Wohlfahrt der ganzen Menschheit."

Folgte also Smith dem Zuge seiner Zeit, nahm er auf die besondere Natur
der einzelnen Nationen keine Rücksicht, und operirte er gerade, als ob die Staaten
schon die Organe der in ihre Atome aufgelösten und nur, durch das Sonder¬
interesse der Individuen geordneten Friedensgemeinschaft der Menschheit wären,
so blieb er doch ein Sohn seines Volkes. Er vertrat eine Idee, aber als
Politiker rechnete er mit Thatsachen. Dem Kosmopolitismus huldigte er, weil
derselbe dem englischen Interesse förderlich war, weil die Industrie Englands
eines Schutzes durch Zollschranken nicht zu bedürfen schien.

Der "größte französische Nationalökonom", Jean Baptiste Sah, hat
wenig mehr gethan, als daß er Smiths Werk vom Nationalreichthum übersicht¬
licher und faßlicher gemacht hat, daß unter seiner formenden Hand die vulgären
Geschäftsregeln des Marktes wissenschaftliche Gestalt und gelehrten Anstrich
erhalten haben. Was er selbst Neues erdacht, will nicht viel bedeuten; doch


die mit Naturnotwendigkeit wirken, und wenn er die Nationalökonomie nicht
als die materialistische Lehre von der Erzeugung, der Vertheilung und dem
Verbrauche der Tauschwerthe, sondern als Philosophie der Gesellschaft auffaßt
und zu diesem Behufe die Entstehung der wirthschaftlichen Theorien in stetem
Zusammenhange mit der Staaten- und Völkergeschichte und der ganzen Ge-
dankenrichtung der jeweiligen Epochen erklärt.

Wir behalten uns vor, auf das Buch zurückzukommen, wenn es abgeschlossen
vorliegen wird. -Für heute geben wir in einem Auszuge aus dem fünften Kapitel
eine Probe von dem, was wir uns von den Urtheilen des Verfassers über die
deutschen Freihändler, namentlich über die auf dem Katheder wirkenden unge¬
fähr aneignen können.

Der Vater der Freihandelstheorie ist bekanntlich Adam Smith. Sein
System hat die Denkart des Kaufmanns zur Grundlage. Zweck und Ziel der
wirthschaftlichen Thätigkeit ist die Mehrung der Tauschwerthe. Die Volkswirth¬
schaft erscheint als Inbegriff aller Privatwirthschaften; Privatvortheil und Ge¬
meinvortheil decken sich, und die Summe der privaten Tauschwerthe macht den
Nationalreichthum aus. Die privaten Wirthschaften wissen am besten, was
ihnen nützt, also muß man sie gewähren lassen; denn ihr Gewinn ist eben auch
der Gewinn des Gemeinwesens. Die Anerkennung eines selbständigen morali¬
schen Sinnes war mit dieser Anschauung nicht vereinbar, und so beschwichtigte
Smith die Bedenken gegen den utilitarischen Calcül mit der Behauptung, daß
die Selbstsucht des Einzelnen im Egoismus aller Andern ihre Schranke finde
und die Regulirung sich so ganz von selbst mache. Zudem stimmte diese Theorie
des nackten Egoismus mit der philanthropischen und kosmopolitischen Richtung
des achtzehnten Jahrhunderts, die in dem Satze der Encyklopädie gipfelt: „Die
Wohlfahrt des Individuums ist auch die Wohlfahrt der ganzen Menschheit."

Folgte also Smith dem Zuge seiner Zeit, nahm er auf die besondere Natur
der einzelnen Nationen keine Rücksicht, und operirte er gerade, als ob die Staaten
schon die Organe der in ihre Atome aufgelösten und nur, durch das Sonder¬
interesse der Individuen geordneten Friedensgemeinschaft der Menschheit wären,
so blieb er doch ein Sohn seines Volkes. Er vertrat eine Idee, aber als
Politiker rechnete er mit Thatsachen. Dem Kosmopolitismus huldigte er, weil
derselbe dem englischen Interesse förderlich war, weil die Industrie Englands
eines Schutzes durch Zollschranken nicht zu bedürfen schien.

Der „größte französische Nationalökonom", Jean Baptiste Sah, hat
wenig mehr gethan, als daß er Smiths Werk vom Nationalreichthum übersicht¬
licher und faßlicher gemacht hat, daß unter seiner formenden Hand die vulgären
Geschäftsregeln des Marktes wissenschaftliche Gestalt und gelehrten Anstrich
erhalten haben. Was er selbst Neues erdacht, will nicht viel bedeuten; doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/266>, abgerufen am 17.06.2024.