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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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sich nach allen Himmelsrichtungen über die clavierspielende Welt zu ergießen.
Ob aber die kühnen Unternehmer alle ihre Rechnung finden werden? Chopin hat
ein kleines Publikum; es ist nur in feiner und tiefer gebildeten Musikkreisen zu
suchen. Tausende maltraitiren Mendelssohns "Lieder ohne Worte", die nie
eine Zeile von Chopin gesehen haben; tausende rütteln den Des-dur-Walzer
von Chopin und versteigen sich vielleicht auch noch zu der und jener Mazurka
von ihm oder gar zu seinem Trauermarsch -- damit ist aber auch das Maß
ihrer Neigung und ihrer Fähigkeit erschöpft. Chopin wird, das ist gewiß, von
jetzt an mehr gekauft werden als bisher. Wie zahllose Exemplare von Lessing,
Goethe, Schiller, seit sie so billig geworden sind, daß man ihren Preis in
Groschen angeben kann, in deutschen Häusern und Familien die Bücherbretter
drücken, ohne deshalb sonderlich viel mehr gelesen zu werden als früher, so
kann man ja jetzt auch allenthalben ans Clavieren und in Notenetagören
elastische Musikalien "in diversen Couleuren" -- wie die Firma C. F. Kcchnt so
geschmackvoll angekündigt -- prangen sehen, ohne daß die glücklichen Besitzer
immer sonderlichen Gebrauch davon zu machen wüßten. Vielleicht wird nicht
der hundertste Theil von dem mit Chopinschen Compositionen bedruckten
Papiere, das in den nächsten Jahren in die Welt gehen wird, von menschlichen
Augen überflogen werden. Gleichviel. Etwas zur Popularisirung Chopins, so
weit man bei ihm überhaupt von "populär" - werden reden kann, wird die
tapfere, hoffuungerfüllte Unternehmungslust unserer Musikalienverleger, in der
sich -- mitten unter allem Pessimismus der Zeit -- ein gut Stück optimistischer
Gesinnung ausspricht, sicherlich beitragen. Für den deutschen Verlagsbuchhandel
kann der deutsche Musikalien Handel hier einmal zum leuchtenden Muster dienen.*)
Sicherlich werden die einzelnen Ausgaben -- nach den Erfahrungen der letzten
Jahre kann darüber kein Zweifel sein -- auch in ansprechender Ausstattung
einander zu überbieten suchen. Selbst der sog. Mition ?hors, die bei ihrer
alles ausstechenden Wohlfeilheit früher darauf verzichten mußte, in der äußeren
Ausstattung ihrer Erzeugnisse mit anderen Ausgaben zu concurriren, ist es
durch ihren enormen Absatz ermöglicht worden, auch! in dieser Beziehung bei
gleichbleibender Billigkeit Jahr für Jahr Besseres zu leisten; höchstens er-



") Während es sonst vielfach umgekehrt ist, daß der Musikalienhandel vom Buchhandel
lernen kann. Z> B. darin, daß er endlich einmal mit der Unsitte bräche, die Musikalien
ohne Jahreszahl in die Welt zu schicken, und mit der weiteren Unsitte, die Titelblätter
der Musikalien in kindischer Weise mit Bildchen u. tgi. heranSznstaffiren. Im Buchhandel
sieht man jedes Buch, daß ohne Jahreszahl erscheint, sofort mit verdächtigen Blicken an,
und den kindischen Umschlagstand läßt man sich höchstens bei Jugendschriften gefallen. So
sollte es auch im anständigen Musikalienhandel Grundsatz werden, daß ein Nvtenhest, welches
sein Geburtsjahr verschweigt und in kindisch buntem Kleide erscheint, damit von selbst zur
ephemeren Modewaare gestempelt wäre.

sich nach allen Himmelsrichtungen über die clavierspielende Welt zu ergießen.
Ob aber die kühnen Unternehmer alle ihre Rechnung finden werden? Chopin hat
ein kleines Publikum; es ist nur in feiner und tiefer gebildeten Musikkreisen zu
suchen. Tausende maltraitiren Mendelssohns „Lieder ohne Worte", die nie
eine Zeile von Chopin gesehen haben; tausende rütteln den Des-dur-Walzer
von Chopin und versteigen sich vielleicht auch noch zu der und jener Mazurka
von ihm oder gar zu seinem Trauermarsch — damit ist aber auch das Maß
ihrer Neigung und ihrer Fähigkeit erschöpft. Chopin wird, das ist gewiß, von
jetzt an mehr gekauft werden als bisher. Wie zahllose Exemplare von Lessing,
Goethe, Schiller, seit sie so billig geworden sind, daß man ihren Preis in
Groschen angeben kann, in deutschen Häusern und Familien die Bücherbretter
drücken, ohne deshalb sonderlich viel mehr gelesen zu werden als früher, so
kann man ja jetzt auch allenthalben ans Clavieren und in Notenetagören
elastische Musikalien „in diversen Couleuren" — wie die Firma C. F. Kcchnt so
geschmackvoll angekündigt — prangen sehen, ohne daß die glücklichen Besitzer
immer sonderlichen Gebrauch davon zu machen wüßten. Vielleicht wird nicht
der hundertste Theil von dem mit Chopinschen Compositionen bedruckten
Papiere, das in den nächsten Jahren in die Welt gehen wird, von menschlichen
Augen überflogen werden. Gleichviel. Etwas zur Popularisirung Chopins, so
weit man bei ihm überhaupt von „populär" - werden reden kann, wird die
tapfere, hoffuungerfüllte Unternehmungslust unserer Musikalienverleger, in der
sich — mitten unter allem Pessimismus der Zeit — ein gut Stück optimistischer
Gesinnung ausspricht, sicherlich beitragen. Für den deutschen Verlagsbuchhandel
kann der deutsche Musikalien Handel hier einmal zum leuchtenden Muster dienen.*)
Sicherlich werden die einzelnen Ausgaben — nach den Erfahrungen der letzten
Jahre kann darüber kein Zweifel sein — auch in ansprechender Ausstattung
einander zu überbieten suchen. Selbst der sog. Mition ?hors, die bei ihrer
alles ausstechenden Wohlfeilheit früher darauf verzichten mußte, in der äußeren
Ausstattung ihrer Erzeugnisse mit anderen Ausgaben zu concurriren, ist es
durch ihren enormen Absatz ermöglicht worden, auch! in dieser Beziehung bei
gleichbleibender Billigkeit Jahr für Jahr Besseres zu leisten; höchstens er-



») Während es sonst vielfach umgekehrt ist, daß der Musikalienhandel vom Buchhandel
lernen kann. Z> B. darin, daß er endlich einmal mit der Unsitte bräche, die Musikalien
ohne Jahreszahl in die Welt zu schicken, und mit der weiteren Unsitte, die Titelblätter
der Musikalien in kindischer Weise mit Bildchen u. tgi. heranSznstaffiren. Im Buchhandel
sieht man jedes Buch, daß ohne Jahreszahl erscheint, sofort mit verdächtigen Blicken an,
und den kindischen Umschlagstand läßt man sich höchstens bei Jugendschriften gefallen. So
sollte es auch im anständigen Musikalienhandel Grundsatz werden, daß ein Nvtenhest, welches
sein Geburtsjahr verschweigt und in kindisch buntem Kleide erscheint, damit von selbst zur
ephemeren Modewaare gestempelt wäre.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/87>, abgerufen am 27.05.2024.