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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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oft Mützen von Silberblech und kleine türkische Goldmünzen in den Haaren.
Der Anzug des Mannes setzt sich aus einem Hemd und Hosen von Baumwolle,
einem weiten wollenen Rocke mit offenen Aermeln und einem Gürtel zusammen,
worüber man im Winter einen weißen Wollenmantel wirst. Den Kopf bedeckt
ein Turban, der bisweilen durch eine silberne Nadel zusammengehalten wird.
Der Gürtel ist meist reich verziert und enthält die Pistolen und einen Aatagan,
ohne die man niemals ausgeht. Die Kleidung der Kapitäne oder Häuptlinge
besteht aus Sammet, der mit Gold- und Silberstickerei verziert ist. Jedes Haus
hat seinen kleinen Garten, jedes Dorf einen Rasenplatz für Tänze und Festspiele
sowie eine gepflasterte Stelle von kreisrunder Form, auf der man das Getreide
durch Pferde austreten läßt. Die Nahrung besteht meist aus Obst, Brot und
Gemüse, Käse, Lauch, Zwiebeln und Oliven. Fleisch kommt nur selten auf den
Tisch. Die Christen trinken Wein, die Muslime von geistigen Getränken nur
Branntwein (Raki), der aus Mais, Gerste oder Weinbeeren bereitet wird. Das
Volk, das sich im Allgemeinen nur mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigt, ist
mäßig und sparsam, aber trüge und unwissend. Offener Raub, an Fremde"
begangen, gilt nicht für Schande, wohl aber heimlicher Diebstahl.

In der Ebene sind die Albanesen der Besteuerung und, soweit sie Muslime,
der Rekrutirung unterworfen. Die Christen zahlen wie die andere Rajah den
Haradsch, d. h. die Wehrstener. Die Malisori dagegen haben, durch große und
fast undurchdringliche Bergwälder geschützt, die Rekrutirung sich niemals auf¬
dringen lassen. Sie stellen dein Sultan nur Freiwillige, die sich auf ihre eigene
Kosten ausrüsten. Die Muhammedaner unter ihnen entrichten gar keine Steuer,
die Christen jährlich nur 2 Piaster (circa 40 Pfennige) für die Familie. Nur
der Clan bildet in Albanien eine festgeschlossene solidarisch verbundene Einheit,
nicht die Nationalität, und so herrschte bis jetzt die größte Decentralisation,
wenigstens unter den Stämmen des Gebirges. Innerhalb des Claus aber er¬
freut sich der Einzelne in allen Privatangelegenheiten außerordentlicher Selb¬
ständigkeit. Nur selteu wendet man sich an das "Gericht der Alten", das unter
dem Vorsitze des Fürsten oder Häuptlings bürgerliche Streitigkeiten zu schlichten
und Verbrechen zu strafen bestimmt ist. Nur Diebstähle werden vor diesen Rath
des Stammes gebracht und von diesem in der Regel mit einer Buße geahndet,
die dem vierfachen Werth des entwendeten Gegenstandes entspricht. Ehebruch
(der selten vorkommt) straft der beleidigte Gatte selbst durch Tödtung der Frau
und ihres Verführers. Mord wird von den Verwandten des Ermordeten auf
dem Wege der Blutrache (Ghiak) geahndet; nur wenn die daraus sich entwickelnde
Fehde zwischen zwei Familien auf beiden Seiten so viele Opfer verschlungen
hat, daß der Ehre genügt zu sein scheint, wendet man sich zum Vergleich an
jenes Gericht der Alten, und die Partei, welche den Streit begonnen hat, muß


oft Mützen von Silberblech und kleine türkische Goldmünzen in den Haaren.
Der Anzug des Mannes setzt sich aus einem Hemd und Hosen von Baumwolle,
einem weiten wollenen Rocke mit offenen Aermeln und einem Gürtel zusammen,
worüber man im Winter einen weißen Wollenmantel wirst. Den Kopf bedeckt
ein Turban, der bisweilen durch eine silberne Nadel zusammengehalten wird.
Der Gürtel ist meist reich verziert und enthält die Pistolen und einen Aatagan,
ohne die man niemals ausgeht. Die Kleidung der Kapitäne oder Häuptlinge
besteht aus Sammet, der mit Gold- und Silberstickerei verziert ist. Jedes Haus
hat seinen kleinen Garten, jedes Dorf einen Rasenplatz für Tänze und Festspiele
sowie eine gepflasterte Stelle von kreisrunder Form, auf der man das Getreide
durch Pferde austreten läßt. Die Nahrung besteht meist aus Obst, Brot und
Gemüse, Käse, Lauch, Zwiebeln und Oliven. Fleisch kommt nur selten auf den
Tisch. Die Christen trinken Wein, die Muslime von geistigen Getränken nur
Branntwein (Raki), der aus Mais, Gerste oder Weinbeeren bereitet wird. Das
Volk, das sich im Allgemeinen nur mit Ackerbau und Viehzucht beschäftigt, ist
mäßig und sparsam, aber trüge und unwissend. Offener Raub, an Fremde»
begangen, gilt nicht für Schande, wohl aber heimlicher Diebstahl.

In der Ebene sind die Albanesen der Besteuerung und, soweit sie Muslime,
der Rekrutirung unterworfen. Die Christen zahlen wie die andere Rajah den
Haradsch, d. h. die Wehrstener. Die Malisori dagegen haben, durch große und
fast undurchdringliche Bergwälder geschützt, die Rekrutirung sich niemals auf¬
dringen lassen. Sie stellen dein Sultan nur Freiwillige, die sich auf ihre eigene
Kosten ausrüsten. Die Muhammedaner unter ihnen entrichten gar keine Steuer,
die Christen jährlich nur 2 Piaster (circa 40 Pfennige) für die Familie. Nur
der Clan bildet in Albanien eine festgeschlossene solidarisch verbundene Einheit,
nicht die Nationalität, und so herrschte bis jetzt die größte Decentralisation,
wenigstens unter den Stämmen des Gebirges. Innerhalb des Claus aber er¬
freut sich der Einzelne in allen Privatangelegenheiten außerordentlicher Selb¬
ständigkeit. Nur selteu wendet man sich an das „Gericht der Alten", das unter
dem Vorsitze des Fürsten oder Häuptlings bürgerliche Streitigkeiten zu schlichten
und Verbrechen zu strafen bestimmt ist. Nur Diebstähle werden vor diesen Rath
des Stammes gebracht und von diesem in der Regel mit einer Buße geahndet,
die dem vierfachen Werth des entwendeten Gegenstandes entspricht. Ehebruch
(der selten vorkommt) straft der beleidigte Gatte selbst durch Tödtung der Frau
und ihres Verführers. Mord wird von den Verwandten des Ermordeten auf
dem Wege der Blutrache (Ghiak) geahndet; nur wenn die daraus sich entwickelnde
Fehde zwischen zwei Familien auf beiden Seiten so viele Opfer verschlungen
hat, daß der Ehre genügt zu sein scheint, wendet man sich zum Vergleich an
jenes Gericht der Alten, und die Partei, welche den Streit begonnen hat, muß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/12>, abgerufen am 21.05.2024.