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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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die von letzterem bestimmte Geldsumme zahlen. Eine Art Milderung der Sitte
der Blutrache liegt in der Gastfreundschaft, die selbst den Mörder des nächsten
Verwandten, wenn er Herberge anspricht, und wenn er Aufnahme des Rächers
in sein Haus gewährt hat, zu schonen gebietet. Wenn ein von den Vollstreckern
der Blutrache verfolgter Mörder bei dem Sohne oder Vater des von ihm
umgebrachten Zuflucht suchte, so würde dieser verpflichtet sein, ihm nicht nur
ein Asyl und Nahrung zu gewähren, sondern ihn auch zu vertheidige" und seine
Flucht auf jede Weise zu begünstige". Denn das oberste Gesetz ist die Gast¬
freundschaft, die Rache nimmt erst die zweite Stelle ein; wer anders handeln
wollte, würde vogelfrei werden wie ein wildes Thier.

So niedrig die Stellung des albanesischen Weibes auch ist, so kommt es
doch kaum vor, daß jemand, wenn sie allein im Walde oder in den Bergen
ist, sich Freiheiten oder Beleidigungen gegen sie gestattete; es geht dies so weit,
daß ein Reisender sich nicht besser gegen Anfälle schützen kann, als wenn er
eine Frau gewinnt, ihm auf dem Wege von einer Ortschaft zur anderen als
Führerin zu dienen. Wenn die albanesischen Mädchen bei ihrer Verheirathung
von den Eltern um ein paar türkische Lire verkauft werden, so ist das nicht
viel schlimmer als die immer mehr überHand nehmende Sitte im Westen, keine
Iran zu nehmen, die nicht eine reichliche Mitgift mitbringt. Die Liebeslieder
der Schkipetaren sind zart, gefühlvoll und rein, so daß sie sich sehr vortheilhaft
von den orientalischen mit ihrer mehr oder minder groben Sinnlichkeit unter¬
scheiden. Nicht selten läßt der Mann der Frau deutlich empfinden, daß er ihr
Herr ist, doch hört er auch auf ihren Rath, und niemals ist sie ihm wie dem
Türken Sclaviu oder bloße Sache.

Jeder Clan hat seinen Häuptling nach Erstgeburtsgerecht, aber derselbe
besitzt im Frieden nur ausübende Gewalt, im Kriege ist er der gegebene Be¬
fehlshaber. Ihm steht, wie bemerkt, ein "Rath der Alten" zur Seite, der aus
den vornehmen Familien hervorgeht und keineswegs bloß aus Greisen besteht.
Die Verfassung der albanesischen Stämme des Gebirges ist somit, wenn man
von einer solchen Tradition überhaupt als von einer Verfassung reden darf,
nicht demokratischer, sondern aristokratischer Natur. Allerdings beruft der Rath
der Alten mit dem Fürsten in Fällen von allgemeinerem Interesse gewöhnlich
alle waffenfähigen Männer des Stammes zusammen, aber der vom Fürsten und
dem Rathe der Alten vertretene Adel leitet die Verhandlungen und führt in
der Regel die Beschlüsse herbei. Zuweilen verhandeln mehrere, ja viele Mali¬
soren-Claus in gemeinschaftlicher Versammlung durch Abgeordnete, aber die
Achtung vor der Selbständigkeit der einzelnen Claus ist so groß, daß die Be¬
schlüsse solcher Versammlungen in den Fällen, wo sie nicht einstimmig gefaßt
sind, die Minderheit nicht binden, so daß es zu Anfang des letzten Krieges vor-


die von letzterem bestimmte Geldsumme zahlen. Eine Art Milderung der Sitte
der Blutrache liegt in der Gastfreundschaft, die selbst den Mörder des nächsten
Verwandten, wenn er Herberge anspricht, und wenn er Aufnahme des Rächers
in sein Haus gewährt hat, zu schonen gebietet. Wenn ein von den Vollstreckern
der Blutrache verfolgter Mörder bei dem Sohne oder Vater des von ihm
umgebrachten Zuflucht suchte, so würde dieser verpflichtet sein, ihm nicht nur
ein Asyl und Nahrung zu gewähren, sondern ihn auch zu vertheidige» und seine
Flucht auf jede Weise zu begünstige». Denn das oberste Gesetz ist die Gast¬
freundschaft, die Rache nimmt erst die zweite Stelle ein; wer anders handeln
wollte, würde vogelfrei werden wie ein wildes Thier.

So niedrig die Stellung des albanesischen Weibes auch ist, so kommt es
doch kaum vor, daß jemand, wenn sie allein im Walde oder in den Bergen
ist, sich Freiheiten oder Beleidigungen gegen sie gestattete; es geht dies so weit,
daß ein Reisender sich nicht besser gegen Anfälle schützen kann, als wenn er
eine Frau gewinnt, ihm auf dem Wege von einer Ortschaft zur anderen als
Führerin zu dienen. Wenn die albanesischen Mädchen bei ihrer Verheirathung
von den Eltern um ein paar türkische Lire verkauft werden, so ist das nicht
viel schlimmer als die immer mehr überHand nehmende Sitte im Westen, keine
Iran zu nehmen, die nicht eine reichliche Mitgift mitbringt. Die Liebeslieder
der Schkipetaren sind zart, gefühlvoll und rein, so daß sie sich sehr vortheilhaft
von den orientalischen mit ihrer mehr oder minder groben Sinnlichkeit unter¬
scheiden. Nicht selten läßt der Mann der Frau deutlich empfinden, daß er ihr
Herr ist, doch hört er auch auf ihren Rath, und niemals ist sie ihm wie dem
Türken Sclaviu oder bloße Sache.

Jeder Clan hat seinen Häuptling nach Erstgeburtsgerecht, aber derselbe
besitzt im Frieden nur ausübende Gewalt, im Kriege ist er der gegebene Be¬
fehlshaber. Ihm steht, wie bemerkt, ein „Rath der Alten" zur Seite, der aus
den vornehmen Familien hervorgeht und keineswegs bloß aus Greisen besteht.
Die Verfassung der albanesischen Stämme des Gebirges ist somit, wenn man
von einer solchen Tradition überhaupt als von einer Verfassung reden darf,
nicht demokratischer, sondern aristokratischer Natur. Allerdings beruft der Rath
der Alten mit dem Fürsten in Fällen von allgemeinerem Interesse gewöhnlich
alle waffenfähigen Männer des Stammes zusammen, aber der vom Fürsten und
dem Rathe der Alten vertretene Adel leitet die Verhandlungen und führt in
der Regel die Beschlüsse herbei. Zuweilen verhandeln mehrere, ja viele Mali¬
soren-Claus in gemeinschaftlicher Versammlung durch Abgeordnete, aber die
Achtung vor der Selbständigkeit der einzelnen Claus ist so groß, daß die Be¬
schlüsse solcher Versammlungen in den Fällen, wo sie nicht einstimmig gefaßt
sind, die Minderheit nicht binden, so daß es zu Anfang des letzten Krieges vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/13>, abgerufen am 21.05.2024.