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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Theils der Philosophie, dein die anderen Theile nur dienen, der Ethik, uns zu
vergegenwärtigen. Ihr HM doch alle die -?c!dz"t, unser Moralbrevier,
tüchtig studirt, daß auch kein Wort euch im Gedächtniß mangelt? Legt euch
also in den Schatten dieses Ahornbaumes." Und sofort begann er, selbst an
den Stamm des Ahorns angelehnt, die Repetitionsstunde.

Wir wollen den Leser hier nicht mit dem ganzen Examen behelligen: es
genügt für unseren Zweck, wenn wir einige Aphorismen aus der epikureischen
Ethik mittheilen.

Die Götter kümmern sich nicht um die Welt; aber des Menschen Seele
hat auch nichts mit einem Jenseits zu thun, sie stirbt mit dem Körper. -- Der
Zweck des menschlichen Daseins ist das Wohl des Individuums; das höchste
Gut ist daher die Lust, das höchste Uebel der Schmerz. Es giebt aber ver¬
schiedene Arten und Grade der Lust und des Schmerzes, und es kauu der Fall
eintreten, daß wir eine Lust nnr dnrch Verzicht ans andere oder nur mit
Schmerzen erkaufen, daß wir umgekehrt einem Schmerze nur durch Uebernahme
eines anderen oder dnrch Verzicht auf eine Lust entgehen können. In diesem
Falle muß man mit Rücksicht auf Nutzen oder Schaden, den die einzelnen Lust-
und Schmerzempfindungen gewähre", je nach Umständen das Gute wie ein
Uebel und das Ueble wie ein Gutes behandeln und der Lust entsagen, wenn
sie größeren Schmerz im Gefolge hat, und zur Erlangung größerer Lust Schmerz
übernehmen. Jede positive Lust, z. B. das Essen und Trinken, beruht auf einem
Bedürfniß, mithin auf einem Schmerze, im erwähnten Beispiele auf Hunger und
Durst; also besteht das eigentliche Ziel der Lust nur in der Schmerzlosigkeit, und
das Gute in der Freiheit vou Uebeln. Diese Schmerzlosigkeit ist theils körperlich,
theils geistig; die geistige heißt Seelenruhe, ","^"^". Wie die positive Lust des
Geistes, weil sie nicht bloß auf die Gegenwart, sondern auch ans Vergangenheit
und Zukunft sich erstreckt, werthvoller ist als die mit dem Augenblick verrin¬
nende des Körpers, so ist auch die Seelenruhe höher einzuschlagen als die körper¬
liche Schmerzlosigkeit; zum vollständigen Glücke gehören beide. -- Zur Seelen¬
ruhe verhelfen die Einsicht, die Müßigung, die Sündhaftigkeit und die Gerech¬
tigkeit -- die vier Cardinaltugenden. -- Die Einsicht macht uns allein frei;
sie zu erwerben ist es nie zu spät uoch zu früh. Sie ist unverlierbar, die
Mutter aller Tugenden, die Mutter alles wahren Glückes, und sie lehrt uns,
daß man nicht wahrhaft glücklich sein könne, ohne weise, edel und gerecht zu
sein. Es ist besser, mit Einsicht und Verstand äußerem Unglücke preisgegeben
zu sein, als ohne Einsicht und Verstand in äußerem Glücke zu leben. Der
Anfang des Heils ist die Erkenntniß der Sünde. -- Die Mäßigung ist uns
von der Natur selbst geboten. Sie hat das Nöthige leicht beschafflich und das
Schwerbeschasfliche unnöthig gemacht; sie sorgt also genügend für unser Glück,


Theils der Philosophie, dein die anderen Theile nur dienen, der Ethik, uns zu
vergegenwärtigen. Ihr HM doch alle die -?c!dz«t, unser Moralbrevier,
tüchtig studirt, daß auch kein Wort euch im Gedächtniß mangelt? Legt euch
also in den Schatten dieses Ahornbaumes." Und sofort begann er, selbst an
den Stamm des Ahorns angelehnt, die Repetitionsstunde.

Wir wollen den Leser hier nicht mit dem ganzen Examen behelligen: es
genügt für unseren Zweck, wenn wir einige Aphorismen aus der epikureischen
Ethik mittheilen.

Die Götter kümmern sich nicht um die Welt; aber des Menschen Seele
hat auch nichts mit einem Jenseits zu thun, sie stirbt mit dem Körper. — Der
Zweck des menschlichen Daseins ist das Wohl des Individuums; das höchste
Gut ist daher die Lust, das höchste Uebel der Schmerz. Es giebt aber ver¬
schiedene Arten und Grade der Lust und des Schmerzes, und es kauu der Fall
eintreten, daß wir eine Lust nnr dnrch Verzicht ans andere oder nur mit
Schmerzen erkaufen, daß wir umgekehrt einem Schmerze nur durch Uebernahme
eines anderen oder dnrch Verzicht auf eine Lust entgehen können. In diesem
Falle muß man mit Rücksicht auf Nutzen oder Schaden, den die einzelnen Lust-
und Schmerzempfindungen gewähre», je nach Umständen das Gute wie ein
Uebel und das Ueble wie ein Gutes behandeln und der Lust entsagen, wenn
sie größeren Schmerz im Gefolge hat, und zur Erlangung größerer Lust Schmerz
übernehmen. Jede positive Lust, z. B. das Essen und Trinken, beruht auf einem
Bedürfniß, mithin auf einem Schmerze, im erwähnten Beispiele auf Hunger und
Durst; also besteht das eigentliche Ziel der Lust nur in der Schmerzlosigkeit, und
das Gute in der Freiheit vou Uebeln. Diese Schmerzlosigkeit ist theils körperlich,
theils geistig; die geistige heißt Seelenruhe, «,«^«^«. Wie die positive Lust des
Geistes, weil sie nicht bloß auf die Gegenwart, sondern auch ans Vergangenheit
und Zukunft sich erstreckt, werthvoller ist als die mit dem Augenblick verrin¬
nende des Körpers, so ist auch die Seelenruhe höher einzuschlagen als die körper¬
liche Schmerzlosigkeit; zum vollständigen Glücke gehören beide. — Zur Seelen¬
ruhe verhelfen die Einsicht, die Müßigung, die Sündhaftigkeit und die Gerech¬
tigkeit — die vier Cardinaltugenden. — Die Einsicht macht uns allein frei;
sie zu erwerben ist es nie zu spät uoch zu früh. Sie ist unverlierbar, die
Mutter aller Tugenden, die Mutter alles wahren Glückes, und sie lehrt uns,
daß man nicht wahrhaft glücklich sein könne, ohne weise, edel und gerecht zu
sein. Es ist besser, mit Einsicht und Verstand äußerem Unglücke preisgegeben
zu sein, als ohne Einsicht und Verstand in äußerem Glücke zu leben. Der
Anfang des Heils ist die Erkenntniß der Sünde. — Die Mäßigung ist uns
von der Natur selbst geboten. Sie hat das Nöthige leicht beschafflich und das
Schwerbeschasfliche unnöthig gemacht; sie sorgt also genügend für unser Glück,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/22>, abgerufen am 21.05.2024.