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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Schultern sie standen, voraushatte, das Ueberkommene ebenso in formaler Hin¬
sicht zu überbieten wie psychologisch zu vertiefen. Auf das Wie also, nicht auf
das Was legten sie den Hauptnachdruck bei ihrem Schaffen. Erst als die gol¬
dene Zeit zu entschwinden begann und einerseits die Talente fehlten, die sich
berufen fühlten auf die angegebene Weise mit ihren letzten Vorgängern zu ri-
valisiren, andererseits es galt, das Verlangen eines übersättigten Geschmackes
nach Neuem zu befriedigen, sehen wir das Streben der Künstler darauf gerichtet,
entweder den oft behandelten Gegenständen solche Seiten abzugewinnen, die
bisher nicht oder nur nebenher berührt worden waren, oder wenigstens dnrch
Neuheit des Arrangements Interesse zu erregen, mit einem Worte: originell
zu sein im modernen Sinne. So finden wir, um an eines der oben angezogenen
Beispiele anzuknüpfen, in der Folge das früher durchgängig angewandte einfache
Schema bei den meisten Darstellungen der Verkündigung verlassen und an Stelle
jenes, das die heilige Jungfrau in schlichter Stellung an ihrem Betpult, den
Engel mit der Lilie vor ihr knieend zeigte, theatralische Kompositionen wie die des
Francesco Albani oder des Tintoretto und Paolo Veronese verbreitet, in denen
durch das Herabschweben des Engels und die gesteigerte Erregung der Madonna
bei aller Schönheit im Einzelnen doch ein fremdartig berührendes Element in
den schlichten Vorgang hineingetragen erscheint. Naturgemäß wächst die Ver¬
pflichtung zu einer solchen Orginalität, mögen sich nun die ausübenden Künstler
dieselbe freiwillig dictiren oder von außen dictiren lassen, mit der Steigerung
des Kunstbetriebes, und schließlich hat sie zur Folge, daß, wenn die möglichen
Variationen erschöpft sind, die Neigung der Schaffenden und Genießenden für
die "verbrauchten" Gegenstände schwindet. Das stofflich Neue hat dann schon
als solches die allgemeinen Sympathien für sich. Hierin vor allein und nicht
ausschließlich in der wenn nicht der Religion überhaupt, so doch der geoffen¬
barte" Religion abholden modernen Zeitströmung liegt wohl der Grund dafür,
daß in unseren Tagen die Pflege der religiösen Kunst im Verhältniß zu an¬
deren Bestrebungen im Abnehmen begriffen ist. Geschieht es indeß, daß ein
Künstler sich mit einem religiösen Gegenstande beschäftigt, so wird er nur selteu
es wagen, unbekümmert um die herrschenden Ansichten über Originalität, einfach
die Composition eines früheren bedeutenden Werkes zu adoptiren.

Dergleichen Betrachtungen drängen sich auf, wenn man die Entwicklung
einer religiösen Darstellung verfolgt, die zu allen Zeiten in Italien den künst¬
lerischen Gestaltungstrieb besonders angeregt und beschäftigt hat. Es ist eine
Scene aus der Leidensgeschichte Christi: der todte Heiland, von den Seinigen,
namentlich vou der Mutter, betrauert. Die Darstellungen dieser Scene bezeichnet
der italienische Sprachgebrauch kurz mit dem Namen "Pieta," indem er dieses
Wort jedoch oft zu eng faßt, da z. B. nicht wenige Gemälde desselben Gegen-


Schultern sie standen, voraushatte, das Ueberkommene ebenso in formaler Hin¬
sicht zu überbieten wie psychologisch zu vertiefen. Auf das Wie also, nicht auf
das Was legten sie den Hauptnachdruck bei ihrem Schaffen. Erst als die gol¬
dene Zeit zu entschwinden begann und einerseits die Talente fehlten, die sich
berufen fühlten auf die angegebene Weise mit ihren letzten Vorgängern zu ri-
valisiren, andererseits es galt, das Verlangen eines übersättigten Geschmackes
nach Neuem zu befriedigen, sehen wir das Streben der Künstler darauf gerichtet,
entweder den oft behandelten Gegenständen solche Seiten abzugewinnen, die
bisher nicht oder nur nebenher berührt worden waren, oder wenigstens dnrch
Neuheit des Arrangements Interesse zu erregen, mit einem Worte: originell
zu sein im modernen Sinne. So finden wir, um an eines der oben angezogenen
Beispiele anzuknüpfen, in der Folge das früher durchgängig angewandte einfache
Schema bei den meisten Darstellungen der Verkündigung verlassen und an Stelle
jenes, das die heilige Jungfrau in schlichter Stellung an ihrem Betpult, den
Engel mit der Lilie vor ihr knieend zeigte, theatralische Kompositionen wie die des
Francesco Albani oder des Tintoretto und Paolo Veronese verbreitet, in denen
durch das Herabschweben des Engels und die gesteigerte Erregung der Madonna
bei aller Schönheit im Einzelnen doch ein fremdartig berührendes Element in
den schlichten Vorgang hineingetragen erscheint. Naturgemäß wächst die Ver¬
pflichtung zu einer solchen Orginalität, mögen sich nun die ausübenden Künstler
dieselbe freiwillig dictiren oder von außen dictiren lassen, mit der Steigerung
des Kunstbetriebes, und schließlich hat sie zur Folge, daß, wenn die möglichen
Variationen erschöpft sind, die Neigung der Schaffenden und Genießenden für
die „verbrauchten" Gegenstände schwindet. Das stofflich Neue hat dann schon
als solches die allgemeinen Sympathien für sich. Hierin vor allein und nicht
ausschließlich in der wenn nicht der Religion überhaupt, so doch der geoffen¬
barte» Religion abholden modernen Zeitströmung liegt wohl der Grund dafür,
daß in unseren Tagen die Pflege der religiösen Kunst im Verhältniß zu an¬
deren Bestrebungen im Abnehmen begriffen ist. Geschieht es indeß, daß ein
Künstler sich mit einem religiösen Gegenstande beschäftigt, so wird er nur selteu
es wagen, unbekümmert um die herrschenden Ansichten über Originalität, einfach
die Composition eines früheren bedeutenden Werkes zu adoptiren.

Dergleichen Betrachtungen drängen sich auf, wenn man die Entwicklung
einer religiösen Darstellung verfolgt, die zu allen Zeiten in Italien den künst¬
lerischen Gestaltungstrieb besonders angeregt und beschäftigt hat. Es ist eine
Scene aus der Leidensgeschichte Christi: der todte Heiland, von den Seinigen,
namentlich vou der Mutter, betrauert. Die Darstellungen dieser Scene bezeichnet
der italienische Sprachgebrauch kurz mit dem Namen „Pieta," indem er dieses
Wort jedoch oft zu eng faßt, da z. B. nicht wenige Gemälde desselben Gegen-


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[0031] Schultern sie standen, voraushatte, das Ueberkommene ebenso in formaler Hin¬ sicht zu überbieten wie psychologisch zu vertiefen. Auf das Wie also, nicht auf das Was legten sie den Hauptnachdruck bei ihrem Schaffen. Erst als die gol¬ dene Zeit zu entschwinden begann und einerseits die Talente fehlten, die sich berufen fühlten auf die angegebene Weise mit ihren letzten Vorgängern zu ri- valisiren, andererseits es galt, das Verlangen eines übersättigten Geschmackes nach Neuem zu befriedigen, sehen wir das Streben der Künstler darauf gerichtet, entweder den oft behandelten Gegenständen solche Seiten abzugewinnen, die bisher nicht oder nur nebenher berührt worden waren, oder wenigstens dnrch Neuheit des Arrangements Interesse zu erregen, mit einem Worte: originell zu sein im modernen Sinne. So finden wir, um an eines der oben angezogenen Beispiele anzuknüpfen, in der Folge das früher durchgängig angewandte einfache Schema bei den meisten Darstellungen der Verkündigung verlassen und an Stelle jenes, das die heilige Jungfrau in schlichter Stellung an ihrem Betpult, den Engel mit der Lilie vor ihr knieend zeigte, theatralische Kompositionen wie die des Francesco Albani oder des Tintoretto und Paolo Veronese verbreitet, in denen durch das Herabschweben des Engels und die gesteigerte Erregung der Madonna bei aller Schönheit im Einzelnen doch ein fremdartig berührendes Element in den schlichten Vorgang hineingetragen erscheint. Naturgemäß wächst die Ver¬ pflichtung zu einer solchen Orginalität, mögen sich nun die ausübenden Künstler dieselbe freiwillig dictiren oder von außen dictiren lassen, mit der Steigerung des Kunstbetriebes, und schließlich hat sie zur Folge, daß, wenn die möglichen Variationen erschöpft sind, die Neigung der Schaffenden und Genießenden für die „verbrauchten" Gegenstände schwindet. Das stofflich Neue hat dann schon als solches die allgemeinen Sympathien für sich. Hierin vor allein und nicht ausschließlich in der wenn nicht der Religion überhaupt, so doch der geoffen¬ barte» Religion abholden modernen Zeitströmung liegt wohl der Grund dafür, daß in unseren Tagen die Pflege der religiösen Kunst im Verhältniß zu an¬ deren Bestrebungen im Abnehmen begriffen ist. Geschieht es indeß, daß ein Künstler sich mit einem religiösen Gegenstande beschäftigt, so wird er nur selteu es wagen, unbekümmert um die herrschenden Ansichten über Originalität, einfach die Composition eines früheren bedeutenden Werkes zu adoptiren. Dergleichen Betrachtungen drängen sich auf, wenn man die Entwicklung einer religiösen Darstellung verfolgt, die zu allen Zeiten in Italien den künst¬ lerischen Gestaltungstrieb besonders angeregt und beschäftigt hat. Es ist eine Scene aus der Leidensgeschichte Christi: der todte Heiland, von den Seinigen, namentlich vou der Mutter, betrauert. Die Darstellungen dieser Scene bezeichnet der italienische Sprachgebrauch kurz mit dem Namen „Pieta," indem er dieses Wort jedoch oft zu eng faßt, da z. B. nicht wenige Gemälde desselben Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/31>, abgerufen am 21.05.2024.