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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Standes ganz willkürlich als Abnahme vom Kreuze (äöxc>8i^in>no), bezeichnet werden,
bloß weil das Kreuz darin sichtbar ist. Andererseits werden aber auch Darstel¬
lungen, in denen der Christusleichnam von Engeln betrauert und zwar meist
von ihnen im Grabe emporgerichtet erscheint, ein Motiv, das außer zahlreichen
anderen Werken hervorragenden plastischen Arbeiten des Donatello und des
Girolamo Campagna, sowie Gemälden der verschiedensten italienischen Schulen
zu Grunde liegt, gewöhnlich unter dem Namen "Pieta" citirt. Der Zweck der
nachfolgenden Zeilen ist es, bloß die ersterwähnte Kategorie von Kunstwerken
ins Auge zu fassen, wobei freilich durch die unendliche Masse und die Ver-
streutheit der Darstellungen einerseits eine Beschränkung auf die bedeutenderen
derselben, andererseits eine nur beiläufige Berücksichtigung des dein Verfasser
nicht durch Autopsie bekannten Materials geboten ist.

Es findet sich unseres Wissens keine Stelle in den Passivnsberichten der
Evangelien oder in anderen neutestamentlichen Schriften"), durch welche den
Kunstwerken, mit denen wir uns hier beschäftigen wollen, eine directe Grund¬
lage geboten wäre; wir haben es vielmehr mit einer durchaus freien, selbständigen
Schöpfung der Kunst zu thun, die, ihrem Bedürfniß nach concentrirter
Wirkung entsprechend, den Schluß des gewaltigen biblischen Trauerspiels in
einen einzigen Moment zusammendrängt, der geeignet ist mit der vollen Wucht
erschütternder Tragik ans die Empfindung des Beschauers zu wirken. Die ent¬
seelte Hülle des großen Todten von ihr beweint, die ihm das Leben gab, der
tiefste, heiligste Mutterschmerz, den je die Welt gesehen -- das ist in der That
ein künstlerischer Vorwurf, dem selbst die Antike trotz ihrer Niobe**) keinen
gleichartigen an die Seite zu stellen hat, der in seiner grandiosen Bedeutsamkeit
völlig vereinzelt dasteht.

Das erste Auftreten der weitverbreiteten Darstellung ist in Dunkel gehüllt.
In der altchristlichen Kunst, in der bekanntlich die symbolisirende Tendenz vor¬
herrscht und aus der Geschichte Christi speciell die Passionsscenen nicht vor¬
kommen, suchen wir sie vergebens; ebenso in der älteren byzantinischen Kunst,
die gleichfalls Darstellungen der Leidensgeschichte noch vermeidet. Ob dagegen
in Tafelgemälden der Art, von der sich z. B. drei Exemplare in der Pinakothek




*) In einem der Bücher der Könige, falls ich nicht irre, kommt allerdings ein aus die
Mutter Gottes bezüglicher Passus vor, ungefähr des Wortlautes: "Auf deinen Knieen wirst
du ihn (se. den todten Sohn) halten" -- möglicherweise die Wurzel der einen so oft sich
wiederholenden Darstellung des Gegenstandes. ^Offenbar meint der Verfasser 2 Kön 4, 20;
>
D. Red.) doch wird die Stelle schwerlich etwas mit der Pieta zu thun haben.
Die von Feuerbach gebrauchte Bezeichnung der Niobe als "ma.tkr arkar",^ der alten
Kunst" trifft doch mir zum Theil das Wesen dieser Gestalt, das keineswegs, wie dasjenige
der Madonna, in dem mütterlichen Schmerze ausgeht, sondern zugleich den ungebrochenen
Stolz der Königin umfaßt, also einen Zug enthält, der mit dem Charakter der Madonna
nicht das Geringste gemein hat.

Standes ganz willkürlich als Abnahme vom Kreuze (äöxc>8i^in>no), bezeichnet werden,
bloß weil das Kreuz darin sichtbar ist. Andererseits werden aber auch Darstel¬
lungen, in denen der Christusleichnam von Engeln betrauert und zwar meist
von ihnen im Grabe emporgerichtet erscheint, ein Motiv, das außer zahlreichen
anderen Werken hervorragenden plastischen Arbeiten des Donatello und des
Girolamo Campagna, sowie Gemälden der verschiedensten italienischen Schulen
zu Grunde liegt, gewöhnlich unter dem Namen „Pieta" citirt. Der Zweck der
nachfolgenden Zeilen ist es, bloß die ersterwähnte Kategorie von Kunstwerken
ins Auge zu fassen, wobei freilich durch die unendliche Masse und die Ver-
streutheit der Darstellungen einerseits eine Beschränkung auf die bedeutenderen
derselben, andererseits eine nur beiläufige Berücksichtigung des dein Verfasser
nicht durch Autopsie bekannten Materials geboten ist.

Es findet sich unseres Wissens keine Stelle in den Passivnsberichten der
Evangelien oder in anderen neutestamentlichen Schriften"), durch welche den
Kunstwerken, mit denen wir uns hier beschäftigen wollen, eine directe Grund¬
lage geboten wäre; wir haben es vielmehr mit einer durchaus freien, selbständigen
Schöpfung der Kunst zu thun, die, ihrem Bedürfniß nach concentrirter
Wirkung entsprechend, den Schluß des gewaltigen biblischen Trauerspiels in
einen einzigen Moment zusammendrängt, der geeignet ist mit der vollen Wucht
erschütternder Tragik ans die Empfindung des Beschauers zu wirken. Die ent¬
seelte Hülle des großen Todten von ihr beweint, die ihm das Leben gab, der
tiefste, heiligste Mutterschmerz, den je die Welt gesehen — das ist in der That
ein künstlerischer Vorwurf, dem selbst die Antike trotz ihrer Niobe**) keinen
gleichartigen an die Seite zu stellen hat, der in seiner grandiosen Bedeutsamkeit
völlig vereinzelt dasteht.

Das erste Auftreten der weitverbreiteten Darstellung ist in Dunkel gehüllt.
In der altchristlichen Kunst, in der bekanntlich die symbolisirende Tendenz vor¬
herrscht und aus der Geschichte Christi speciell die Passionsscenen nicht vor¬
kommen, suchen wir sie vergebens; ebenso in der älteren byzantinischen Kunst,
die gleichfalls Darstellungen der Leidensgeschichte noch vermeidet. Ob dagegen
in Tafelgemälden der Art, von der sich z. B. drei Exemplare in der Pinakothek




*) In einem der Bücher der Könige, falls ich nicht irre, kommt allerdings ein aus die
Mutter Gottes bezüglicher Passus vor, ungefähr des Wortlautes: „Auf deinen Knieen wirst
du ihn (se. den todten Sohn) halten" — möglicherweise die Wurzel der einen so oft sich
wiederholenden Darstellung des Gegenstandes. ^Offenbar meint der Verfasser 2 Kön 4, 20;
>
D. Red.) doch wird die Stelle schwerlich etwas mit der Pieta zu thun haben.
Die von Feuerbach gebrauchte Bezeichnung der Niobe als „ma.tkr arkar»,^ der alten
Kunst" trifft doch mir zum Theil das Wesen dieser Gestalt, das keineswegs, wie dasjenige
der Madonna, in dem mütterlichen Schmerze ausgeht, sondern zugleich den ungebrochenen
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nicht das Geringste gemein hat.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/32>, abgerufen am 21.05.2024.