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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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zu Bologna unter der Bezeichnung: raanisr" Arse", vorfinden, (No. 238, 242 und
245) vorgiotteske Arbeiten zu erkennen sind, ist sehr zweifelhaft, da vom 14.
Jahrhundert an die Vorliebe für Andachtsbilder des byzantischen Stiles zahl¬
reiche archaistische Nachahmungen hervorrief, und da bei den in Rede stehenden
Arbeiten die verhältnißmäßig schon vorgeschrittene Freiheit der Formengebung
an eine frühere Entstehungszeit kaum glauben läßt. Die drei Compositionen
entsprechen sich in der Hauptsache vollkommen; die Madonna, in den beiden
ersten Bildern vor dem Kreuze sitzend, hat den Leichnam des Sohnes auf
ihrem Schoße ruhen und stützt sein Haupt mit der rechten Hand, während die
Linke den rechten Arm des Todten umfaßt hält; ihr ältlich gebildetes Antlitz
neigt sich trauernd zu ihm herab. Einer fast genan entsprechenden plastischen
Darstellung, die ungefähr der gleichen Zeit wird zugeschrieben werden müssen,
begegnen wir in einer kleinen Gruppe, die auf dem Altar des Baptisteriums
der Marcuskirche zu Venedig aufgestellt ist, nach der an den beiden Schmal¬
seiten des von der Madonna eingenommenen Sitzes angebrachten Ornamentik
ein Werk venezianischen Ursprungs.

Daß jedoch diese Compositionsweise nicht die zuerst gebräuchliche war,
zeigt eine den erwähnten drei Gemälden offenbar zeitlich weit vorausgehende,
unter allen uns bekannten überhaupt die älteste Darstellung des Gegenstandes,
die sich auf einem Crucifix in der Cappella maggiore des Campo Santo zu
Pisa findet und nach Crowe und Cavalcaselle*) und Förster**) ungefähr der
Mitte des 12. Jahrhunderts angehören würde. Roh und unbeholfen in der
Zeichnung, ist dieses Bild in der Anordnung der Figuren doch schon eine Vor¬
stufe derjenigen Compositionsweise, die, namentlich von Giotto ausgebildet, noch
im 15. Jahrhundert von Angelico da Fiesole angewandt worden ist. Ebenso
ist in der Art, wie der Leichnam von der Madonna gehalten wird, bereits das
Motiv gegeben, welches, wenn auch vielfach modificirt, der weitaus größten
Zahl der späteren Darstellungen der Scene zu Grunde liegt. Daß dieses kleine
Gemälde keineswegs selbständiger Erfindung entsprungen ist, wird schon durch
seine untergeordnete Bestimmung außer Frage gestellt; wichtig ist es indeß als
ein Zeugniß dafür, daß der Gegenstand schon ziemlich lange vor Giotto künst¬
lerisch behandelt worden ist, und zwar in einer Form, die Giotto als Grund¬
lage zu benutzen nicht verschmähte.

In der Composition dieses Meisters haben wir die erste Hauptstufe in der
Entwicklung der Pietadarstellungen zu erblicken. Ihm, dem großen Seelen-
schilderer, bot dieses Thema ein besonders lohnendes Feld, und es gereicht dem
Künstler zu hohem Ruhme, daß unter den zahlreichen biblischen Darstellungen,




**) Gesch. der ltalien. Kunst I, 327.
") Deutsche Ausgabe I, 137 u- Anm, 23 daselbst, -
Grenzboten III. 1830. 4

zu Bologna unter der Bezeichnung: raanisr» Arse», vorfinden, (No. 238, 242 und
245) vorgiotteske Arbeiten zu erkennen sind, ist sehr zweifelhaft, da vom 14.
Jahrhundert an die Vorliebe für Andachtsbilder des byzantischen Stiles zahl¬
reiche archaistische Nachahmungen hervorrief, und da bei den in Rede stehenden
Arbeiten die verhältnißmäßig schon vorgeschrittene Freiheit der Formengebung
an eine frühere Entstehungszeit kaum glauben läßt. Die drei Compositionen
entsprechen sich in der Hauptsache vollkommen; die Madonna, in den beiden
ersten Bildern vor dem Kreuze sitzend, hat den Leichnam des Sohnes auf
ihrem Schoße ruhen und stützt sein Haupt mit der rechten Hand, während die
Linke den rechten Arm des Todten umfaßt hält; ihr ältlich gebildetes Antlitz
neigt sich trauernd zu ihm herab. Einer fast genan entsprechenden plastischen
Darstellung, die ungefähr der gleichen Zeit wird zugeschrieben werden müssen,
begegnen wir in einer kleinen Gruppe, die auf dem Altar des Baptisteriums
der Marcuskirche zu Venedig aufgestellt ist, nach der an den beiden Schmal¬
seiten des von der Madonna eingenommenen Sitzes angebrachten Ornamentik
ein Werk venezianischen Ursprungs.

Daß jedoch diese Compositionsweise nicht die zuerst gebräuchliche war,
zeigt eine den erwähnten drei Gemälden offenbar zeitlich weit vorausgehende,
unter allen uns bekannten überhaupt die älteste Darstellung des Gegenstandes,
die sich auf einem Crucifix in der Cappella maggiore des Campo Santo zu
Pisa findet und nach Crowe und Cavalcaselle*) und Förster**) ungefähr der
Mitte des 12. Jahrhunderts angehören würde. Roh und unbeholfen in der
Zeichnung, ist dieses Bild in der Anordnung der Figuren doch schon eine Vor¬
stufe derjenigen Compositionsweise, die, namentlich von Giotto ausgebildet, noch
im 15. Jahrhundert von Angelico da Fiesole angewandt worden ist. Ebenso
ist in der Art, wie der Leichnam von der Madonna gehalten wird, bereits das
Motiv gegeben, welches, wenn auch vielfach modificirt, der weitaus größten
Zahl der späteren Darstellungen der Scene zu Grunde liegt. Daß dieses kleine
Gemälde keineswegs selbständiger Erfindung entsprungen ist, wird schon durch
seine untergeordnete Bestimmung außer Frage gestellt; wichtig ist es indeß als
ein Zeugniß dafür, daß der Gegenstand schon ziemlich lange vor Giotto künst¬
lerisch behandelt worden ist, und zwar in einer Form, die Giotto als Grund¬
lage zu benutzen nicht verschmähte.

In der Composition dieses Meisters haben wir die erste Hauptstufe in der
Entwicklung der Pietadarstellungen zu erblicken. Ihm, dem großen Seelen-
schilderer, bot dieses Thema ein besonders lohnendes Feld, und es gereicht dem
Künstler zu hohem Ruhme, daß unter den zahlreichen biblischen Darstellungen,




**) Gesch. der ltalien. Kunst I, 327.
») Deutsche Ausgabe I, 137 u- Anm, 23 daselbst, -
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[0033] zu Bologna unter der Bezeichnung: raanisr» Arse», vorfinden, (No. 238, 242 und 245) vorgiotteske Arbeiten zu erkennen sind, ist sehr zweifelhaft, da vom 14. Jahrhundert an die Vorliebe für Andachtsbilder des byzantischen Stiles zahl¬ reiche archaistische Nachahmungen hervorrief, und da bei den in Rede stehenden Arbeiten die verhältnißmäßig schon vorgeschrittene Freiheit der Formengebung an eine frühere Entstehungszeit kaum glauben läßt. Die drei Compositionen entsprechen sich in der Hauptsache vollkommen; die Madonna, in den beiden ersten Bildern vor dem Kreuze sitzend, hat den Leichnam des Sohnes auf ihrem Schoße ruhen und stützt sein Haupt mit der rechten Hand, während die Linke den rechten Arm des Todten umfaßt hält; ihr ältlich gebildetes Antlitz neigt sich trauernd zu ihm herab. Einer fast genan entsprechenden plastischen Darstellung, die ungefähr der gleichen Zeit wird zugeschrieben werden müssen, begegnen wir in einer kleinen Gruppe, die auf dem Altar des Baptisteriums der Marcuskirche zu Venedig aufgestellt ist, nach der an den beiden Schmal¬ seiten des von der Madonna eingenommenen Sitzes angebrachten Ornamentik ein Werk venezianischen Ursprungs. Daß jedoch diese Compositionsweise nicht die zuerst gebräuchliche war, zeigt eine den erwähnten drei Gemälden offenbar zeitlich weit vorausgehende, unter allen uns bekannten überhaupt die älteste Darstellung des Gegenstandes, die sich auf einem Crucifix in der Cappella maggiore des Campo Santo zu Pisa findet und nach Crowe und Cavalcaselle*) und Förster**) ungefähr der Mitte des 12. Jahrhunderts angehören würde. Roh und unbeholfen in der Zeichnung, ist dieses Bild in der Anordnung der Figuren doch schon eine Vor¬ stufe derjenigen Compositionsweise, die, namentlich von Giotto ausgebildet, noch im 15. Jahrhundert von Angelico da Fiesole angewandt worden ist. Ebenso ist in der Art, wie der Leichnam von der Madonna gehalten wird, bereits das Motiv gegeben, welches, wenn auch vielfach modificirt, der weitaus größten Zahl der späteren Darstellungen der Scene zu Grunde liegt. Daß dieses kleine Gemälde keineswegs selbständiger Erfindung entsprungen ist, wird schon durch seine untergeordnete Bestimmung außer Frage gestellt; wichtig ist es indeß als ein Zeugniß dafür, daß der Gegenstand schon ziemlich lange vor Giotto künst¬ lerisch behandelt worden ist, und zwar in einer Form, die Giotto als Grund¬ lage zu benutzen nicht verschmähte. In der Composition dieses Meisters haben wir die erste Hauptstufe in der Entwicklung der Pietadarstellungen zu erblicken. Ihm, dem großen Seelen- schilderer, bot dieses Thema ein besonders lohnendes Feld, und es gereicht dem Künstler zu hohem Ruhme, daß unter den zahlreichen biblischen Darstellungen, **) Gesch. der ltalien. Kunst I, 327. ») Deutsche Ausgabe I, 137 u- Anm, 23 daselbst, - Grenzboten III. 1830. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/33>, abgerufen am 21.05.2024.