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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Regelbuch für die preußischen Schule" erschien! Und nnn höre man die Be¬
gründung dieses erschütternden Verdammungsurteiles: "Die Werke von Lessing,
Schiller, Goethe, Bibel, Fibel, Katechismus, die schönen Novellen von X, Ys
bestrickende Verse :e. -- alle diese Werke, in denen die Erfahrungen der Mensch¬
heit sich verdichten (vgl. Fibel), die als Uutrimsutuin LM-nus unseren Vätern
und Brüdern und uns selbst in Fleisch und Blut übergegangen, selbst wenn wir
selbst nie einen Blick in ihre Tiefen gethan (-- so?! --), sind vernichtet,
sind nun wirkliche Spirituspräparate geworden." Aber noch nicht
genug damit, das unselige Orthographiebüchlein richtet noch viel schlimmeres
Unheil an; es regelt nicht nur die Schrift, sondern nach der Auffassung des
Herrn B. auch die Sprache. Wie dies freilich möglich sein soll, wie durch
orthographische Regeln dem gesprochenen Worte Gewalt angethan werden
kann, darüber erfahren wir nichts Näheres; wir hören nur die pathetischen
Worte: "Man könnte so gut der Fluth befehlen: "Kusch dich!" wie einer
wachsenden Nation mit einem beschränkten Wörterkreis sich aufzu-
helfen befehlen. Eines Mannes Sprache -- und wäre sie die eines preußi¬
schen Ministers -- ist keines Mannes Sprache (!). Schließlich geht die schein¬
bare Willkür des ewigen Fallgesetzes über die so errichtete Wehre hinweg, und
der preußische Beamte und Lehrer würde nach kurzer Zeit eine
todte Sprache sprechen, der gezwungen würde, sich an die neupreußische
Orthographie zu binden." Ob sich wohl der Verfasser bei diesen Worten etwas
gedacht hat?*)

Die Abweichungen der neuen Rechtschreibung von der bisherige" sind in
Wirklichkeit gar nicht bedeutend. Ich kann hier nicht ans Einzelheiten eingehen,
tönt aber nur nochmals betonen, daß es sich nicht um eine Neuordnung unseres
Schreibgebrauchs handelt, sondern nur um eine Fixierung desselben, daß Ände¬
rungen nur da vorgenommen sind, wo der jetzige Schreibgebrauch ins Schwan-



*) Noch eine Probe seiner Klarheit über sprachliche Dinge. Er ist empört über das
'e, welches jetzt in den Fremdwörtern auf --leren nach dem Vorgänge von spazieren,
Agieren im Anschluß an die historisch begründete alte Schreibweise verlangt wird:
"Uns wird bei diesen Dehnungen eines Lautes, der begrifflich wie etymologisch
schon als bloßer Ballast sich störend bemerklich macht, und den andere lebendiger im Kampf
u>"s Dasein stehende Sprachen längst abgestoßen und abgeschliffen haben (das deutsche
Dehnungs-e?), der überdies auch phonetisch in gleichem Maße unangenehm ist, uns wird
°"bei, sagen wir, zu Muthe, als ob ein angehender Violinvirtuose vor unseren Ohren auf
der Quinte seine ersten Uebungen machte." Ein solches Gefühl empfindet man allerdings
"eini Lesen dieses Mustersatzes, den ich dem geistvolle" Herausgeber der "Gegenwart" zur
^Handlung in bekannter Lindauschcr Manier empfehlen mochte: man denke sich die Deh¬
nungen eines Lautes -- soll heißen einen Dchnungslaut --, welcher begrifflich wie
°thmologisch als Ballast stört und phonetisch in gleichem Maße unange¬
nehm ist! Das ist doch der blühendste Unsinn.

Regelbuch für die preußischen Schule» erschien! Und nnn höre man die Be¬
gründung dieses erschütternden Verdammungsurteiles: „Die Werke von Lessing,
Schiller, Goethe, Bibel, Fibel, Katechismus, die schönen Novellen von X, Ys
bestrickende Verse :e. — alle diese Werke, in denen die Erfahrungen der Mensch¬
heit sich verdichten (vgl. Fibel), die als Uutrimsutuin LM-nus unseren Vätern
und Brüdern und uns selbst in Fleisch und Blut übergegangen, selbst wenn wir
selbst nie einen Blick in ihre Tiefen gethan (— so?! —), sind vernichtet,
sind nun wirkliche Spirituspräparate geworden." Aber noch nicht
genug damit, das unselige Orthographiebüchlein richtet noch viel schlimmeres
Unheil an; es regelt nicht nur die Schrift, sondern nach der Auffassung des
Herrn B. auch die Sprache. Wie dies freilich möglich sein soll, wie durch
orthographische Regeln dem gesprochenen Worte Gewalt angethan werden
kann, darüber erfahren wir nichts Näheres; wir hören nur die pathetischen
Worte: „Man könnte so gut der Fluth befehlen: „Kusch dich!" wie einer
wachsenden Nation mit einem beschränkten Wörterkreis sich aufzu-
helfen befehlen. Eines Mannes Sprache — und wäre sie die eines preußi¬
schen Ministers — ist keines Mannes Sprache (!). Schließlich geht die schein¬
bare Willkür des ewigen Fallgesetzes über die so errichtete Wehre hinweg, und
der preußische Beamte und Lehrer würde nach kurzer Zeit eine
todte Sprache sprechen, der gezwungen würde, sich an die neupreußische
Orthographie zu binden." Ob sich wohl der Verfasser bei diesen Worten etwas
gedacht hat?*)

Die Abweichungen der neuen Rechtschreibung von der bisherige» sind in
Wirklichkeit gar nicht bedeutend. Ich kann hier nicht ans Einzelheiten eingehen,
tönt aber nur nochmals betonen, daß es sich nicht um eine Neuordnung unseres
Schreibgebrauchs handelt, sondern nur um eine Fixierung desselben, daß Ände¬
rungen nur da vorgenommen sind, wo der jetzige Schreibgebrauch ins Schwan-



*) Noch eine Probe seiner Klarheit über sprachliche Dinge. Er ist empört über das
'e, welches jetzt in den Fremdwörtern auf —leren nach dem Vorgänge von spazieren,
Agieren im Anschluß an die historisch begründete alte Schreibweise verlangt wird:
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Dehnungs-e?), der überdies auch phonetisch in gleichem Maße unangenehm ist, uns wird
°"bei, sagen wir, zu Muthe, als ob ein angehender Violinvirtuose vor unseren Ohren auf
der Quinte seine ersten Uebungen machte." Ein solches Gefühl empfindet man allerdings
"eini Lesen dieses Mustersatzes, den ich dem geistvolle» Herausgeber der „Gegenwart" zur
^Handlung in bekannter Lindauschcr Manier empfehlen mochte: man denke sich die Deh¬
nungen eines Lautes — soll heißen einen Dchnungslaut —, welcher begrifflich wie
°thmologisch als Ballast stört und phonetisch in gleichem Maße unange¬
nehm ist! Das ist doch der blühendste Unsinn.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/372>, abgerufen am 17.06.2024.