Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

werben. Dazu ist ihr bis zum nichtssagenden farbloses Programm wenig an-
gethan, umsoweniger, als gerade die Leere ihres Programms so viel sagt, daß
die Herren entweder keinen Muth oder keinen Plan einer positiven Politik be¬
sitzen. Ihr gerechtes Schicksal, das sich früher oder später vollziehen wird, ist,
in die Fortschrittspartei aufzugehen.

Die ganze Bedeutung des Vorganges liegt gar nicht auf der Seite der
Ausgetretenen, sondern auf der der Bleibenden. Den letzteren stellt der Aus¬
tritt die Frage, ob sie ihrerseits jetzt eine positive Politik ergreifen wollen oder
jenes ziellose Schwanken fortsetzen, welches die Ausgetretenen zur Trennung
veranlaßt hat, freilich nur, um in der Trennung, wer weiß wie lange, dasselbe
unklare Verfahren fortzusetzen.

Die Thätigkeit der uationalliberalen Partei hat seit deu vierzehn Jahren
des Bestehens der Partei zwei Ziele verfolgt: 1) den Reichskanzler in seiner
Institutionen bildenden Thätigkeit zu unterstützen: 2) auf den Gebieten des indi¬
viduellen Rechts im Anschluß an die alten Dogmen des Liberalismus so viel
Ungebundenheit, so viel Bürgschaften des Individuums, auch des verbrecherischen,
so viel Selbstverwaltung als möglich zu erlangen. Dabei hat man sich nicht
verhehlt, daß auch in den öffentlichen Institutionen die liberale Voraussetzung
ganz anders zur Geltung kommen müsse, daß man diese Forderung aber ver¬
tage, weil ihr theils die Persönlichkeit des Reichskanzlers, theils die Lage des
Reichs noch im Wege stehe. Die liberale Voraussetzung kann man am kürzesten
und erschöpfendsten als die Antithese jenes Satzes bezeichnen, der das mensch¬
liche Denken und Leben bewußt oder unbewußt beherrscht, des tiefsten, deu die
Philosophie gefunden hat. Aristoteles sagt: Das Ganze ist früher als die
Theile; der Liberalismus sagt: das Ganze ist nur, sowie es von den Theilen
gewollt, gehalten, verwirklicht, nach Bedürfniß eingeschränkt oder erweitert wird.
Das Ganze ist zufällig, die Theile sind nothwendig, sagt der Liberalismus.
Das Ganze ist ewig, das Hervortreten der Theile ist zufällig, lehrt Aristoteles.

Mit dieser Antithese wird das große geschichtliche Recht und Verdienst des
Liberalismus nicht bestritten. Der Liberalismus hat nicht gegen die wahre Ge¬
stalt, sondern gegen die Verzerrungen seines logischen Gegentheils gekämpft, da¬
her sein großer Beruf. Aber einmal muß die Frage praktisch entschieden werden,
welche wissenschaftlich schon zehn Mal gelöst ist, ob der Liberalismus den er¬
schöpfenden Staatsbegriff besitzt. Und die Stunde dieser Entscheidung ist jetzt
für Deutschland gekommen. Mit dem Augenblicke, wo die noch lange nicht voll¬
endete Gründungsarbeit des deutschen Reiches, dessen Fundament abgesteckt, aber
nicht gelegt ist, zur Legung des Fundamentes der Reichsgewalt schreitet, wo
zweitens die Frage beantwortet werden muß, ob es eine positive Socialpolitik
giebt oder nur eine negative, alte Schranken niederreißende -- in diesem Augen-


werben. Dazu ist ihr bis zum nichtssagenden farbloses Programm wenig an-
gethan, umsoweniger, als gerade die Leere ihres Programms so viel sagt, daß
die Herren entweder keinen Muth oder keinen Plan einer positiven Politik be¬
sitzen. Ihr gerechtes Schicksal, das sich früher oder später vollziehen wird, ist,
in die Fortschrittspartei aufzugehen.

Die ganze Bedeutung des Vorganges liegt gar nicht auf der Seite der
Ausgetretenen, sondern auf der der Bleibenden. Den letzteren stellt der Aus¬
tritt die Frage, ob sie ihrerseits jetzt eine positive Politik ergreifen wollen oder
jenes ziellose Schwanken fortsetzen, welches die Ausgetretenen zur Trennung
veranlaßt hat, freilich nur, um in der Trennung, wer weiß wie lange, dasselbe
unklare Verfahren fortzusetzen.

Die Thätigkeit der uationalliberalen Partei hat seit deu vierzehn Jahren
des Bestehens der Partei zwei Ziele verfolgt: 1) den Reichskanzler in seiner
Institutionen bildenden Thätigkeit zu unterstützen: 2) auf den Gebieten des indi¬
viduellen Rechts im Anschluß an die alten Dogmen des Liberalismus so viel
Ungebundenheit, so viel Bürgschaften des Individuums, auch des verbrecherischen,
so viel Selbstverwaltung als möglich zu erlangen. Dabei hat man sich nicht
verhehlt, daß auch in den öffentlichen Institutionen die liberale Voraussetzung
ganz anders zur Geltung kommen müsse, daß man diese Forderung aber ver¬
tage, weil ihr theils die Persönlichkeit des Reichskanzlers, theils die Lage des
Reichs noch im Wege stehe. Die liberale Voraussetzung kann man am kürzesten
und erschöpfendsten als die Antithese jenes Satzes bezeichnen, der das mensch¬
liche Denken und Leben bewußt oder unbewußt beherrscht, des tiefsten, deu die
Philosophie gefunden hat. Aristoteles sagt: Das Ganze ist früher als die
Theile; der Liberalismus sagt: das Ganze ist nur, sowie es von den Theilen
gewollt, gehalten, verwirklicht, nach Bedürfniß eingeschränkt oder erweitert wird.
Das Ganze ist zufällig, die Theile sind nothwendig, sagt der Liberalismus.
Das Ganze ist ewig, das Hervortreten der Theile ist zufällig, lehrt Aristoteles.

Mit dieser Antithese wird das große geschichtliche Recht und Verdienst des
Liberalismus nicht bestritten. Der Liberalismus hat nicht gegen die wahre Ge¬
stalt, sondern gegen die Verzerrungen seines logischen Gegentheils gekämpft, da¬
her sein großer Beruf. Aber einmal muß die Frage praktisch entschieden werden,
welche wissenschaftlich schon zehn Mal gelöst ist, ob der Liberalismus den er¬
schöpfenden Staatsbegriff besitzt. Und die Stunde dieser Entscheidung ist jetzt
für Deutschland gekommen. Mit dem Augenblicke, wo die noch lange nicht voll¬
endete Gründungsarbeit des deutschen Reiches, dessen Fundament abgesteckt, aber
nicht gelegt ist, zur Legung des Fundamentes der Reichsgewalt schreitet, wo
zweitens die Frage beantwortet werden muß, ob es eine positive Socialpolitik
giebt oder nur eine negative, alte Schranken niederreißende — in diesem Augen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147644"/>
          <p xml:id="ID_1503" prev="#ID_1502"> werben. Dazu ist ihr bis zum nichtssagenden farbloses Programm wenig an-<lb/>
gethan, umsoweniger, als gerade die Leere ihres Programms so viel sagt, daß<lb/>
die Herren entweder keinen Muth oder keinen Plan einer positiven Politik be¬<lb/>
sitzen. Ihr gerechtes Schicksal, das sich früher oder später vollziehen wird, ist,<lb/>
in die Fortschrittspartei aufzugehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1504"> Die ganze Bedeutung des Vorganges liegt gar nicht auf der Seite der<lb/>
Ausgetretenen, sondern auf der der Bleibenden. Den letzteren stellt der Aus¬<lb/>
tritt die Frage, ob sie ihrerseits jetzt eine positive Politik ergreifen wollen oder<lb/>
jenes ziellose Schwanken fortsetzen, welches die Ausgetretenen zur Trennung<lb/>
veranlaßt hat, freilich nur, um in der Trennung, wer weiß wie lange, dasselbe<lb/>
unklare Verfahren fortzusetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1505"> Die Thätigkeit der uationalliberalen Partei hat seit deu vierzehn Jahren<lb/>
des Bestehens der Partei zwei Ziele verfolgt: 1) den Reichskanzler in seiner<lb/>
Institutionen bildenden Thätigkeit zu unterstützen: 2) auf den Gebieten des indi¬<lb/>
viduellen Rechts im Anschluß an die alten Dogmen des Liberalismus so viel<lb/>
Ungebundenheit, so viel Bürgschaften des Individuums, auch des verbrecherischen,<lb/>
so viel Selbstverwaltung als möglich zu erlangen. Dabei hat man sich nicht<lb/>
verhehlt, daß auch in den öffentlichen Institutionen die liberale Voraussetzung<lb/>
ganz anders zur Geltung kommen müsse, daß man diese Forderung aber ver¬<lb/>
tage, weil ihr theils die Persönlichkeit des Reichskanzlers, theils die Lage des<lb/>
Reichs noch im Wege stehe. Die liberale Voraussetzung kann man am kürzesten<lb/>
und erschöpfendsten als die Antithese jenes Satzes bezeichnen, der das mensch¬<lb/>
liche Denken und Leben bewußt oder unbewußt beherrscht, des tiefsten, deu die<lb/>
Philosophie gefunden hat. Aristoteles sagt: Das Ganze ist früher als die<lb/>
Theile; der Liberalismus sagt: das Ganze ist nur, sowie es von den Theilen<lb/>
gewollt, gehalten, verwirklicht, nach Bedürfniß eingeschränkt oder erweitert wird.<lb/>
Das Ganze ist zufällig, die Theile sind nothwendig, sagt der Liberalismus.<lb/>
Das Ganze ist ewig, das Hervortreten der Theile ist zufällig, lehrt Aristoteles.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1506" next="#ID_1507"> Mit dieser Antithese wird das große geschichtliche Recht und Verdienst des<lb/>
Liberalismus nicht bestritten. Der Liberalismus hat nicht gegen die wahre Ge¬<lb/>
stalt, sondern gegen die Verzerrungen seines logischen Gegentheils gekämpft, da¬<lb/>
her sein großer Beruf. Aber einmal muß die Frage praktisch entschieden werden,<lb/>
welche wissenschaftlich schon zehn Mal gelöst ist, ob der Liberalismus den er¬<lb/>
schöpfenden Staatsbegriff besitzt. Und die Stunde dieser Entscheidung ist jetzt<lb/>
für Deutschland gekommen. Mit dem Augenblicke, wo die noch lange nicht voll¬<lb/>
endete Gründungsarbeit des deutschen Reiches, dessen Fundament abgesteckt, aber<lb/>
nicht gelegt ist, zur Legung des Fundamentes der Reichsgewalt schreitet, wo<lb/>
zweitens die Frage beantwortet werden muß, ob es eine positive Socialpolitik<lb/>
giebt oder nur eine negative, alte Schranken niederreißende &#x2014; in diesem Augen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0550] werben. Dazu ist ihr bis zum nichtssagenden farbloses Programm wenig an- gethan, umsoweniger, als gerade die Leere ihres Programms so viel sagt, daß die Herren entweder keinen Muth oder keinen Plan einer positiven Politik be¬ sitzen. Ihr gerechtes Schicksal, das sich früher oder später vollziehen wird, ist, in die Fortschrittspartei aufzugehen. Die ganze Bedeutung des Vorganges liegt gar nicht auf der Seite der Ausgetretenen, sondern auf der der Bleibenden. Den letzteren stellt der Aus¬ tritt die Frage, ob sie ihrerseits jetzt eine positive Politik ergreifen wollen oder jenes ziellose Schwanken fortsetzen, welches die Ausgetretenen zur Trennung veranlaßt hat, freilich nur, um in der Trennung, wer weiß wie lange, dasselbe unklare Verfahren fortzusetzen. Die Thätigkeit der uationalliberalen Partei hat seit deu vierzehn Jahren des Bestehens der Partei zwei Ziele verfolgt: 1) den Reichskanzler in seiner Institutionen bildenden Thätigkeit zu unterstützen: 2) auf den Gebieten des indi¬ viduellen Rechts im Anschluß an die alten Dogmen des Liberalismus so viel Ungebundenheit, so viel Bürgschaften des Individuums, auch des verbrecherischen, so viel Selbstverwaltung als möglich zu erlangen. Dabei hat man sich nicht verhehlt, daß auch in den öffentlichen Institutionen die liberale Voraussetzung ganz anders zur Geltung kommen müsse, daß man diese Forderung aber ver¬ tage, weil ihr theils die Persönlichkeit des Reichskanzlers, theils die Lage des Reichs noch im Wege stehe. Die liberale Voraussetzung kann man am kürzesten und erschöpfendsten als die Antithese jenes Satzes bezeichnen, der das mensch¬ liche Denken und Leben bewußt oder unbewußt beherrscht, des tiefsten, deu die Philosophie gefunden hat. Aristoteles sagt: Das Ganze ist früher als die Theile; der Liberalismus sagt: das Ganze ist nur, sowie es von den Theilen gewollt, gehalten, verwirklicht, nach Bedürfniß eingeschränkt oder erweitert wird. Das Ganze ist zufällig, die Theile sind nothwendig, sagt der Liberalismus. Das Ganze ist ewig, das Hervortreten der Theile ist zufällig, lehrt Aristoteles. Mit dieser Antithese wird das große geschichtliche Recht und Verdienst des Liberalismus nicht bestritten. Der Liberalismus hat nicht gegen die wahre Ge¬ stalt, sondern gegen die Verzerrungen seines logischen Gegentheils gekämpft, da¬ her sein großer Beruf. Aber einmal muß die Frage praktisch entschieden werden, welche wissenschaftlich schon zehn Mal gelöst ist, ob der Liberalismus den er¬ schöpfenden Staatsbegriff besitzt. Und die Stunde dieser Entscheidung ist jetzt für Deutschland gekommen. Mit dem Augenblicke, wo die noch lange nicht voll¬ endete Gründungsarbeit des deutschen Reiches, dessen Fundament abgesteckt, aber nicht gelegt ist, zur Legung des Fundamentes der Reichsgewalt schreitet, wo zweitens die Frage beantwortet werden muß, ob es eine positive Socialpolitik giebt oder nur eine negative, alte Schranken niederreißende — in diesem Augen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/550
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/550>, abgerufen am 21.05.2024.