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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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blick muß der Liberalismus sich zur entscheidenden Klarheit bringen, ob er seinen
Staatsbegriff vervollständigen kann, ohne sein Lebensprincip aufzugeben. Wir
bejahen die Frage mit voller Ueberzeugung. Aber das Bewußtsein dieser Ant¬
wort muß nun weite Kreise durchdringen.

Die Antwort kann nicht und soll nicht in Form wissenschaftlicher Lehren,
sondern in der Form praktischer Entschlüsse gefunden werden. Soll der Be¬
stand der Reichsgewalt, das heißt des Reiches, abhängig sein von den Launen
und schwankenden Einsichten der Individuen, die die Wählermassen bilden und
deren Streben und Verständniß in keinem Lande so zerrissen ist wie in Deutsch¬
land? Das ist die Frage nach der Selbständigkeit des nationalen Ganzen,
welche in Gestalt der Steuerreform auftritt. Soll die Entwicklung der socialen
Zustände, d. h. die Harmonie und Sicherheit des wirthschaftlichen Gedeihens
der Nation, der Bestand derselben, dem laisssr altfr überlassen werden? Das
ist die Frage, ob es eine positive oder nur eine negative Socialpolitik giebt.

Die Steuerreform hat eine verfassungspolitische Seite, aber ebenso gut eine
svcialpolitische,-indem sie ein die wirtschaftliche Kraft besser schonendes Princip
der Lastvertheilnng sucht. Die Maßregel des Zollschutzes fällt, wie sogleich
einleuchtet, ganz und gar in das Gebiet der positiven Socialpolitik.

Der manchesterliche Liberalismus beliebt, die volle Verwirklichung des
Staatsbegriffs Reaction zu nennen. Reaction ist' ihm die Selbständigkeit der
Reichsgewalt. Die Reichsgewalt soll das Instrument des Parlaments und das
Parlament soll das Instrument der Wählermassen sein. Das hätte einen Sinn,
wenn die Wählermassen, wie zur Zeit der ungebrochenen Oligarchie in England,
nie eine andere Mehrheit senden könnten, als eine solche, die mit den Existenz¬
fragen des Staates vertraut und entschlossen ist, den Staat zu erhalten. Die
Negierung zum Instrument eines Parlaments zu machen, in dem alle Tage eine
Mehrheit von Polen, Dänen, Franzosen, Römern, Berlinern und Internatio¬
nalen zusammenkommen kann, wäre selbstmörderischer Wahnsinn.

Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus der Zollschutz, vor allem
der Getreidezoll. Wir lasen vor einiger Zeit in der "National-Zeitung", als
das Blatt das unabsehbare Anwachsen der amerikanischen Getreideproduction
besprach, die Folgen dieses Anwachsens seien nicht zu übersehen; man müsse sich
damit trösten, daß die Geschichte nie unrichtige Wege gegangen. Ein vortreff¬
licher Satz, nur ein wenig zu allgemein gelassen. Der königliche Weg der Ge¬
schichte geht durch den Willen und Verstand der Völker. Der letzteren Schick¬
sal ist das Product ihrer Gesammtanstrengung. Wenn die Römer, als Kartha¬
gos Herrschaft über Sicilien, Spanien und Nordafrika, die reichsten Kornländer,
sich ausbreitete, von Karthago billiges Getreide genommen hätten, mit dem Trost,
daß die Geschichte noch nie unrichtige Wege gegangen, so wäre Italien bald


blick muß der Liberalismus sich zur entscheidenden Klarheit bringen, ob er seinen
Staatsbegriff vervollständigen kann, ohne sein Lebensprincip aufzugeben. Wir
bejahen die Frage mit voller Ueberzeugung. Aber das Bewußtsein dieser Ant¬
wort muß nun weite Kreise durchdringen.

Die Antwort kann nicht und soll nicht in Form wissenschaftlicher Lehren,
sondern in der Form praktischer Entschlüsse gefunden werden. Soll der Be¬
stand der Reichsgewalt, das heißt des Reiches, abhängig sein von den Launen
und schwankenden Einsichten der Individuen, die die Wählermassen bilden und
deren Streben und Verständniß in keinem Lande so zerrissen ist wie in Deutsch¬
land? Das ist die Frage nach der Selbständigkeit des nationalen Ganzen,
welche in Gestalt der Steuerreform auftritt. Soll die Entwicklung der socialen
Zustände, d. h. die Harmonie und Sicherheit des wirthschaftlichen Gedeihens
der Nation, der Bestand derselben, dem laisssr altfr überlassen werden? Das
ist die Frage, ob es eine positive oder nur eine negative Socialpolitik giebt.

Die Steuerreform hat eine verfassungspolitische Seite, aber ebenso gut eine
svcialpolitische,-indem sie ein die wirtschaftliche Kraft besser schonendes Princip
der Lastvertheilnng sucht. Die Maßregel des Zollschutzes fällt, wie sogleich
einleuchtet, ganz und gar in das Gebiet der positiven Socialpolitik.

Der manchesterliche Liberalismus beliebt, die volle Verwirklichung des
Staatsbegriffs Reaction zu nennen. Reaction ist' ihm die Selbständigkeit der
Reichsgewalt. Die Reichsgewalt soll das Instrument des Parlaments und das
Parlament soll das Instrument der Wählermassen sein. Das hätte einen Sinn,
wenn die Wählermassen, wie zur Zeit der ungebrochenen Oligarchie in England,
nie eine andere Mehrheit senden könnten, als eine solche, die mit den Existenz¬
fragen des Staates vertraut und entschlossen ist, den Staat zu erhalten. Die
Negierung zum Instrument eines Parlaments zu machen, in dem alle Tage eine
Mehrheit von Polen, Dänen, Franzosen, Römern, Berlinern und Internatio¬
nalen zusammenkommen kann, wäre selbstmörderischer Wahnsinn.

Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus der Zollschutz, vor allem
der Getreidezoll. Wir lasen vor einiger Zeit in der „National-Zeitung", als
das Blatt das unabsehbare Anwachsen der amerikanischen Getreideproduction
besprach, die Folgen dieses Anwachsens seien nicht zu übersehen; man müsse sich
damit trösten, daß die Geschichte nie unrichtige Wege gegangen. Ein vortreff¬
licher Satz, nur ein wenig zu allgemein gelassen. Der königliche Weg der Ge¬
schichte geht durch den Willen und Verstand der Völker. Der letzteren Schick¬
sal ist das Product ihrer Gesammtanstrengung. Wenn die Römer, als Kartha¬
gos Herrschaft über Sicilien, Spanien und Nordafrika, die reichsten Kornländer,
sich ausbreitete, von Karthago billiges Getreide genommen hätten, mit dem Trost,
daß die Geschichte noch nie unrichtige Wege gegangen, so wäre Italien bald


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/551>, abgerufen am 15.06.2024.