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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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eine karthagische Provinz geworden. Die Römer zogen vor, Karthago zu zer¬
stören. Dafür ist die Stadt Rom in tausend Jahren das Centrum eines immer
größeren Reiches geworden, nach dessen Untergang römische Sprache, römisches
Recht ein unvergänglicher Besitz aller Cultur geblieben sind. So wird es auch
unsere Sache sein, dafür zu sorgen, daß wir mit den Kornerzeugungsländern,
von denen wir abhängen, in ein Verhältniß gesicherter Gegenseitigkeit treten.
Wenn wir das unterlassen, wird die Geschichte den dann allerdings richtigen
Weg über unsere nationale Existenz hinweggehen.

Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus überhaupt jede positive
Socialpolitik. Weil die feudalen Blätter die Freizügigkeit aufheben möchten,
soll der mit zwei Jahren erlangte Unterstützungswohnsitz ein unantastbares
Evangelium sein. Als ob man nicht auch dahin kommen könnte, die Armen-
Pflege von den Ortsgemeinden auf größere Verbände, sogar auf den Staat zu
übertragen! Aber der manchesterliche Liberalismus will überhaupt keine Dis¬
kussion dieser Fragen mehr, das rasche Gebäude der wesentlich negativen Wirth¬
schaftsgesetzgebung der letzten Jahre soll über jede Verbesserung erhaben sein. Als
ob bloß von den Resten der Feudalpartei und uicht aus allen Gesellschaftskreisen
die' mannigfaltigsten Beschwerden laut würden! Als ob die unerträgliche Plage
des Vagabundenthums, die erschreckende Zunahme von Verbrechen aller Art
bis zu den grauenhaftesten Erscheinungen nicht den verstocktesten Sinn aufrüt¬
teln müßte!

Die nationalliberale Partei, sowohl die des Volkes wie die der Parla¬
mente, steht als Ganzes diesen Fragen noch rathlos gegenüber. Wir meinen
nicht den Fragen der einzelnen Maßregeln, sondern den Fragen des Princips.
An Herrn v. Bennigsen, dem angesehensten Manne der Partei, ist es, der
Partei jetzt ihre Stellung anzuweisen. Man hat diese Partei so oft als den
Ausdruck und als den Führer des gebildeten Mittelstandes hingestellt. Wenn
seine Führer diesen Mittelstand jetzt aus der manchesterlichen Negation oder
aus der Stagnation der Impotenz, die zwischen den Gegensätzen nicht wählen
kann, nicht herausreißen können, so wird dieser Mittelstand den bestimmenden
Antheil an den Geschicken des Vaterlandes, den er lange gehabt hat, auf lange
verlieren. Die Fragen der Erhaltung des deutschen Volkes und Staates werden
in Gestalt einzelner concreter Maßregeln an das Bewußtsein der Massen ge¬
bracht, von diesen verstanden und im Sinne der Selbsterhaltung entschieden
werden. --

Die obige Ausführung ist niedergeschrieben, ehe die Rede bekannt war,
welche Herr v. Bennigsen auf der Parteiversammlung in Hannover am 19.
September gehalten. Der hochbefähigte Politiker hat seine Stellung zwar nicht
in der vorstehend als wünschenswert!) bezeichneten Weise präcifirt, aber doch


eine karthagische Provinz geworden. Die Römer zogen vor, Karthago zu zer¬
stören. Dafür ist die Stadt Rom in tausend Jahren das Centrum eines immer
größeren Reiches geworden, nach dessen Untergang römische Sprache, römisches
Recht ein unvergänglicher Besitz aller Cultur geblieben sind. So wird es auch
unsere Sache sein, dafür zu sorgen, daß wir mit den Kornerzeugungsländern,
von denen wir abhängen, in ein Verhältniß gesicherter Gegenseitigkeit treten.
Wenn wir das unterlassen, wird die Geschichte den dann allerdings richtigen
Weg über unsere nationale Existenz hinweggehen.

Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus überhaupt jede positive
Socialpolitik. Weil die feudalen Blätter die Freizügigkeit aufheben möchten,
soll der mit zwei Jahren erlangte Unterstützungswohnsitz ein unantastbares
Evangelium sein. Als ob man nicht auch dahin kommen könnte, die Armen-
Pflege von den Ortsgemeinden auf größere Verbände, sogar auf den Staat zu
übertragen! Aber der manchesterliche Liberalismus will überhaupt keine Dis¬
kussion dieser Fragen mehr, das rasche Gebäude der wesentlich negativen Wirth¬
schaftsgesetzgebung der letzten Jahre soll über jede Verbesserung erhaben sein. Als
ob bloß von den Resten der Feudalpartei und uicht aus allen Gesellschaftskreisen
die' mannigfaltigsten Beschwerden laut würden! Als ob die unerträgliche Plage
des Vagabundenthums, die erschreckende Zunahme von Verbrechen aller Art
bis zu den grauenhaftesten Erscheinungen nicht den verstocktesten Sinn aufrüt¬
teln müßte!

Die nationalliberale Partei, sowohl die des Volkes wie die der Parla¬
mente, steht als Ganzes diesen Fragen noch rathlos gegenüber. Wir meinen
nicht den Fragen der einzelnen Maßregeln, sondern den Fragen des Princips.
An Herrn v. Bennigsen, dem angesehensten Manne der Partei, ist es, der
Partei jetzt ihre Stellung anzuweisen. Man hat diese Partei so oft als den
Ausdruck und als den Führer des gebildeten Mittelstandes hingestellt. Wenn
seine Führer diesen Mittelstand jetzt aus der manchesterlichen Negation oder
aus der Stagnation der Impotenz, die zwischen den Gegensätzen nicht wählen
kann, nicht herausreißen können, so wird dieser Mittelstand den bestimmenden
Antheil an den Geschicken des Vaterlandes, den er lange gehabt hat, auf lange
verlieren. Die Fragen der Erhaltung des deutschen Volkes und Staates werden
in Gestalt einzelner concreter Maßregeln an das Bewußtsein der Massen ge¬
bracht, von diesen verstanden und im Sinne der Selbsterhaltung entschieden
werden. —

Die obige Ausführung ist niedergeschrieben, ehe die Rede bekannt war,
welche Herr v. Bennigsen auf der Parteiversammlung in Hannover am 19.
September gehalten. Der hochbefähigte Politiker hat seine Stellung zwar nicht
in der vorstehend als wünschenswert!) bezeichneten Weise präcifirt, aber doch


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[0552] eine karthagische Provinz geworden. Die Römer zogen vor, Karthago zu zer¬ stören. Dafür ist die Stadt Rom in tausend Jahren das Centrum eines immer größeren Reiches geworden, nach dessen Untergang römische Sprache, römisches Recht ein unvergänglicher Besitz aller Cultur geblieben sind. So wird es auch unsere Sache sein, dafür zu sorgen, daß wir mit den Kornerzeugungsländern, von denen wir abhängen, in ein Verhältniß gesicherter Gegenseitigkeit treten. Wenn wir das unterlassen, wird die Geschichte den dann allerdings richtigen Weg über unsere nationale Existenz hinweggehen. Reaction ist dem manchesterlichen Liberalismus überhaupt jede positive Socialpolitik. Weil die feudalen Blätter die Freizügigkeit aufheben möchten, soll der mit zwei Jahren erlangte Unterstützungswohnsitz ein unantastbares Evangelium sein. Als ob man nicht auch dahin kommen könnte, die Armen- Pflege von den Ortsgemeinden auf größere Verbände, sogar auf den Staat zu übertragen! Aber der manchesterliche Liberalismus will überhaupt keine Dis¬ kussion dieser Fragen mehr, das rasche Gebäude der wesentlich negativen Wirth¬ schaftsgesetzgebung der letzten Jahre soll über jede Verbesserung erhaben sein. Als ob bloß von den Resten der Feudalpartei und uicht aus allen Gesellschaftskreisen die' mannigfaltigsten Beschwerden laut würden! Als ob die unerträgliche Plage des Vagabundenthums, die erschreckende Zunahme von Verbrechen aller Art bis zu den grauenhaftesten Erscheinungen nicht den verstocktesten Sinn aufrüt¬ teln müßte! Die nationalliberale Partei, sowohl die des Volkes wie die der Parla¬ mente, steht als Ganzes diesen Fragen noch rathlos gegenüber. Wir meinen nicht den Fragen der einzelnen Maßregeln, sondern den Fragen des Princips. An Herrn v. Bennigsen, dem angesehensten Manne der Partei, ist es, der Partei jetzt ihre Stellung anzuweisen. Man hat diese Partei so oft als den Ausdruck und als den Führer des gebildeten Mittelstandes hingestellt. Wenn seine Führer diesen Mittelstand jetzt aus der manchesterlichen Negation oder aus der Stagnation der Impotenz, die zwischen den Gegensätzen nicht wählen kann, nicht herausreißen können, so wird dieser Mittelstand den bestimmenden Antheil an den Geschicken des Vaterlandes, den er lange gehabt hat, auf lange verlieren. Die Fragen der Erhaltung des deutschen Volkes und Staates werden in Gestalt einzelner concreter Maßregeln an das Bewußtsein der Massen ge¬ bracht, von diesen verstanden und im Sinne der Selbsterhaltung entschieden werden. — Die obige Ausführung ist niedergeschrieben, ehe die Rede bekannt war, welche Herr v. Bennigsen auf der Parteiversammlung in Hannover am 19. September gehalten. Der hochbefähigte Politiker hat seine Stellung zwar nicht in der vorstehend als wünschenswert!) bezeichneten Weise präcifirt, aber doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/552>, abgerufen am 21.05.2024.