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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

zur Regierung nichts anderes nöthig sei, als ein tüchtiger, zielbewußter, oberster
Meister mit dem Korporalstock. Nichts ist trauriger, als zu sehen, wie ein ge¬
wiß rechtlicher und ehrbarer Fürst sich und sein Volk halsstarrig in die ver¬
hängnisvollsten Irrthümer stürzt. Der Despotismus der nikolaischen Zeit,
trZs ooouxö a us riwu tairs, ewig beschäftigt, absolute Gleichförmigkeit in
einem Staatswesen zu erzwingen, das durch seine buntscheckige Länder- und
Völkerzusammenwürfelung aller Gleichförmigkeit spottete, schonungslos revolutio¬
när, um konservativ zu sein, kam doch nie an sein Ziel.*) Grimmige politische
Verfolgungssucht, Organisation einer geheimen Ueberwachungsbehörde mit dem
farblosen Titel "Sr. Kaiserlichen Majestät höchsteigene Canzlei, dritte Abthei¬
lung", religiöse Unduldsamkeit, Preß- und Censurzwang, schroffste Scheidung
der Gesellschaftsklassen, complete Absperrung nach außen, Beschränkung jedweder
Bildung -- das waren die Kundgebungen jenes Regiments. Die Polizei,
welche als das einzige Triebrad des erstarrten Staatswesens am Leben geblie¬
ben war, wandelte das ungeheure Reich in ein geweißtes Grab um. Stumm
und bewegungslos waren die productiven Klassen gezwungen worden, sich der
vollen Verkümmerung und der Beraubung zu Gunsten eines doch auch wieder
verkommenen und schließlich selbst wieder vernachlässigten Militärs und einer
noch viel gründlicher verdorbenen Bureaukratie zu unterwerfen, während die
Aristokratie, um den Souverän und seine Werkzeuge geschaart, das Gefühl ihres
Nichts in wahnwitzigen Orgien zu ersticken suchte. Die Nichtigkeit des Peters¬
burger Lebens wurde sprichwörtlich. Einmal war das Spielen mit Seifen¬
blasen salonfähig und der Erfinder der Held des Tages; ein anderes Mal
spaltete sich die ganze vornehme Gesellschaft in zwei feindliche Lager über die
Frage, ob dem kaukasischen Armeecorps zugetheilte Gardeoffiziere in der Haupt¬
stadt Mützen oder Hüte zu tragen hätten, eine Frage, die schließlich der Kaiser
entscheiden mußte. Am beklagenswerthesten war das Schicksal der denkenden
Köpfe, Schriftsteller und Docenten. Im Ministerrath äußerte der Chef öffent¬
lich : ?or>.t litörstsur sse AQ LonsMatizur un! Die Bedrückungen der Censur
waren unglaublich. Nero und Caligula, besonders aber der schreckliche Zar
Iwan IV. durften ja nicht Tyrannen heißen. In einem Schulbuche hieß es:
Die Römer hatten in einer Republik gelebt, weil sie noch nicht glücklich genug
gewesen, die wohlthätige Macht der Autokratie eines einzigen Herrschers zu
kennen. Ein Censor machte Schwierigkeiten, in einem Buche drucken zu lassen,
daß im siebenjährigen Kriege die russische Armee über den König von Preußen
einen Sieg erfochten habe, und zwar aus dem genialen Grunde, weil das
königliche Haus in Preußen dem kaiserlichen verbündet sei. Noch im Jahre



') Wir folgen hier I. I. Honcggers "Russischer Literatur und Cultur.
Die destructiven Elemente im Staate.

zur Regierung nichts anderes nöthig sei, als ein tüchtiger, zielbewußter, oberster
Meister mit dem Korporalstock. Nichts ist trauriger, als zu sehen, wie ein ge¬
wiß rechtlicher und ehrbarer Fürst sich und sein Volk halsstarrig in die ver¬
hängnisvollsten Irrthümer stürzt. Der Despotismus der nikolaischen Zeit,
trZs ooouxö a us riwu tairs, ewig beschäftigt, absolute Gleichförmigkeit in
einem Staatswesen zu erzwingen, das durch seine buntscheckige Länder- und
Völkerzusammenwürfelung aller Gleichförmigkeit spottete, schonungslos revolutio¬
när, um konservativ zu sein, kam doch nie an sein Ziel.*) Grimmige politische
Verfolgungssucht, Organisation einer geheimen Ueberwachungsbehörde mit dem
farblosen Titel „Sr. Kaiserlichen Majestät höchsteigene Canzlei, dritte Abthei¬
lung", religiöse Unduldsamkeit, Preß- und Censurzwang, schroffste Scheidung
der Gesellschaftsklassen, complete Absperrung nach außen, Beschränkung jedweder
Bildung — das waren die Kundgebungen jenes Regiments. Die Polizei,
welche als das einzige Triebrad des erstarrten Staatswesens am Leben geblie¬
ben war, wandelte das ungeheure Reich in ein geweißtes Grab um. Stumm
und bewegungslos waren die productiven Klassen gezwungen worden, sich der
vollen Verkümmerung und der Beraubung zu Gunsten eines doch auch wieder
verkommenen und schließlich selbst wieder vernachlässigten Militärs und einer
noch viel gründlicher verdorbenen Bureaukratie zu unterwerfen, während die
Aristokratie, um den Souverän und seine Werkzeuge geschaart, das Gefühl ihres
Nichts in wahnwitzigen Orgien zu ersticken suchte. Die Nichtigkeit des Peters¬
burger Lebens wurde sprichwörtlich. Einmal war das Spielen mit Seifen¬
blasen salonfähig und der Erfinder der Held des Tages; ein anderes Mal
spaltete sich die ganze vornehme Gesellschaft in zwei feindliche Lager über die
Frage, ob dem kaukasischen Armeecorps zugetheilte Gardeoffiziere in der Haupt¬
stadt Mützen oder Hüte zu tragen hätten, eine Frage, die schließlich der Kaiser
entscheiden mußte. Am beklagenswerthesten war das Schicksal der denkenden
Köpfe, Schriftsteller und Docenten. Im Ministerrath äußerte der Chef öffent¬
lich : ?or>.t litörstsur sse AQ LonsMatizur un! Die Bedrückungen der Censur
waren unglaublich. Nero und Caligula, besonders aber der schreckliche Zar
Iwan IV. durften ja nicht Tyrannen heißen. In einem Schulbuche hieß es:
Die Römer hatten in einer Republik gelebt, weil sie noch nicht glücklich genug
gewesen, die wohlthätige Macht der Autokratie eines einzigen Herrschers zu
kennen. Ein Censor machte Schwierigkeiten, in einem Buche drucken zu lassen,
daß im siebenjährigen Kriege die russische Armee über den König von Preußen
einen Sieg erfochten habe, und zwar aus dem genialen Grunde, weil das
königliche Haus in Preußen dem kaiserlichen verbündet sei. Noch im Jahre



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[0178] Die destructiven Elemente im Staate. zur Regierung nichts anderes nöthig sei, als ein tüchtiger, zielbewußter, oberster Meister mit dem Korporalstock. Nichts ist trauriger, als zu sehen, wie ein ge¬ wiß rechtlicher und ehrbarer Fürst sich und sein Volk halsstarrig in die ver¬ hängnisvollsten Irrthümer stürzt. Der Despotismus der nikolaischen Zeit, trZs ooouxö a us riwu tairs, ewig beschäftigt, absolute Gleichförmigkeit in einem Staatswesen zu erzwingen, das durch seine buntscheckige Länder- und Völkerzusammenwürfelung aller Gleichförmigkeit spottete, schonungslos revolutio¬ när, um konservativ zu sein, kam doch nie an sein Ziel.*) Grimmige politische Verfolgungssucht, Organisation einer geheimen Ueberwachungsbehörde mit dem farblosen Titel „Sr. Kaiserlichen Majestät höchsteigene Canzlei, dritte Abthei¬ lung", religiöse Unduldsamkeit, Preß- und Censurzwang, schroffste Scheidung der Gesellschaftsklassen, complete Absperrung nach außen, Beschränkung jedweder Bildung — das waren die Kundgebungen jenes Regiments. Die Polizei, welche als das einzige Triebrad des erstarrten Staatswesens am Leben geblie¬ ben war, wandelte das ungeheure Reich in ein geweißtes Grab um. Stumm und bewegungslos waren die productiven Klassen gezwungen worden, sich der vollen Verkümmerung und der Beraubung zu Gunsten eines doch auch wieder verkommenen und schließlich selbst wieder vernachlässigten Militärs und einer noch viel gründlicher verdorbenen Bureaukratie zu unterwerfen, während die Aristokratie, um den Souverän und seine Werkzeuge geschaart, das Gefühl ihres Nichts in wahnwitzigen Orgien zu ersticken suchte. Die Nichtigkeit des Peters¬ burger Lebens wurde sprichwörtlich. Einmal war das Spielen mit Seifen¬ blasen salonfähig und der Erfinder der Held des Tages; ein anderes Mal spaltete sich die ganze vornehme Gesellschaft in zwei feindliche Lager über die Frage, ob dem kaukasischen Armeecorps zugetheilte Gardeoffiziere in der Haupt¬ stadt Mützen oder Hüte zu tragen hätten, eine Frage, die schließlich der Kaiser entscheiden mußte. Am beklagenswerthesten war das Schicksal der denkenden Köpfe, Schriftsteller und Docenten. Im Ministerrath äußerte der Chef öffent¬ lich : ?or>.t litörstsur sse AQ LonsMatizur un! Die Bedrückungen der Censur waren unglaublich. Nero und Caligula, besonders aber der schreckliche Zar Iwan IV. durften ja nicht Tyrannen heißen. In einem Schulbuche hieß es: Die Römer hatten in einer Republik gelebt, weil sie noch nicht glücklich genug gewesen, die wohlthätige Macht der Autokratie eines einzigen Herrschers zu kennen. Ein Censor machte Schwierigkeiten, in einem Buche drucken zu lassen, daß im siebenjährigen Kriege die russische Armee über den König von Preußen einen Sieg erfochten habe, und zwar aus dem genialen Grunde, weil das königliche Haus in Preußen dem kaiserlichen verbündet sei. Noch im Jahre ') Wir folgen hier I. I. Honcggers „Russischer Literatur und Cultur.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/178>, abgerufen am 14.05.2024.