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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

1859 konnten Circulare mit folgenden fast unglaublichen Bestimmungen erlassen
werden: Es sei jedermann verboten in Rußland zu reisen, um statistische oder
ethnographische Erkundigungen einzuziehen, es sei denn mit specieller Autorisation
der Regierung. Ein ministerielles Schreiben machte folgende geistreiche Be¬
trachtung: "Die Regierung findet die Öffentlichkeit völlig unnütz und würde
ihrer Würde etwas zu vergeben glauben, wem: sie den durch die Presse auf¬
gebrachten Klagen gegen Mißbräuche die geringste Aufmerksamkeit schenken
wollte." Seit dem ungarischen Kriege durfte von Erweiterung des Eisenbahn¬
netzes nicht mehr die Rede sein, das Prohibitivsystem gegen das Ausland über¬
schritt von 1848--54 alles Maß; 90 Procent aller westlündischen Preßorgane,
fast die gesammte Literatur war ausgeschlossen; das Reisen ins Ausland erfor-
derte directe kaiserliche Erlaubniß nebst Erlegung von 500 Rubel Silber jähr¬
lich; Wissenschaft und Bildung wurden als Producte der gottlosen Ideen des
Westens offen verfolgt und verhöhnt. Die kahle Oede des zarischen Despotis¬
mus lag wie ein Leichentuch über dem ganzen Lande ausgebreitet. Schon
zu Anfange der fünfziger Jahre war so, gründlich aufgeräumt, daß nach
unten vollkommene Todtenstille entstand, nach oben schrankenlose Willkür und
Selbstbetrug. Der hochsinnige Geschichtsprofessor Granowski schrieb 1850 :
"Den Priestern ist anbefohlen, den Cadetten zu lehren, daß die Größe Christi
vorzüglich in seiner Ergebenheit gegen die herrschende Macht bestand; er soll
dargestellt werden als ein Vorbild des Gehorsams und der Disciplin. Die
Lehrer der Geschichte müssen die alten Republiken des Flittergoldes der Tugend
entkleiden und die von den Historikern unverstandene Größe des römischen
Kaiserthums beweisen, welches nur den einen Fehler hatte: es kannte die Erb¬
folge nicht." Welche Früchte der Thorheit und Stupidität des autokratischen
Systems strictester Observanz, die Vernichtung des eignen Selbst, die Los¬
sagung vom individuellen Wollen und Denken, gegenüber dem übermüthigen
Drucke jedes Höhergestellten trug, hat Herzen drastisch dargestellt. "Der Guts¬
besitzer pflegt seinem Diener zu sagen: ,Schweig, ich dulde keine Antwortend Ein
Departementschef wird blaß, wenn einer seiner Untergebenen ihm Einwendungen
macht, und sagt ihm: ,Sie vergessen sich, wissen Sie wohl, mit wem Sie reden?
Der Kaiser verweist für "Meinungen" nach Sibirien, quält Menschen wegen ein
Paar Versen in den Casematten zu Tode. Und alle drei sind eher bereit, Dieb¬
stahl, Bestechung, Raub und Mord zu verzeihen, als die Freiheit der mensch¬
lichen Würde und die Dreistigkeit freier Rede." Bulgarin schrieb unter
Nikolaus, außer andern Vortheilen, welche die Eisenbahn zwischen Petersburg
und Moskau gewähre, sei einer, an den man nicht ohne Rührung denken könne:
daß von nun an ein und dieselbe Person würde des Morgens ein Tedeum für
die Gesundheit des Kaisers in der Kathedrale von Kasan hören können und


Die destructiven Elemente im Staate.

1859 konnten Circulare mit folgenden fast unglaublichen Bestimmungen erlassen
werden: Es sei jedermann verboten in Rußland zu reisen, um statistische oder
ethnographische Erkundigungen einzuziehen, es sei denn mit specieller Autorisation
der Regierung. Ein ministerielles Schreiben machte folgende geistreiche Be¬
trachtung: „Die Regierung findet die Öffentlichkeit völlig unnütz und würde
ihrer Würde etwas zu vergeben glauben, wem: sie den durch die Presse auf¬
gebrachten Klagen gegen Mißbräuche die geringste Aufmerksamkeit schenken
wollte." Seit dem ungarischen Kriege durfte von Erweiterung des Eisenbahn¬
netzes nicht mehr die Rede sein, das Prohibitivsystem gegen das Ausland über¬
schritt von 1848—54 alles Maß; 90 Procent aller westlündischen Preßorgane,
fast die gesammte Literatur war ausgeschlossen; das Reisen ins Ausland erfor-
derte directe kaiserliche Erlaubniß nebst Erlegung von 500 Rubel Silber jähr¬
lich; Wissenschaft und Bildung wurden als Producte der gottlosen Ideen des
Westens offen verfolgt und verhöhnt. Die kahle Oede des zarischen Despotis¬
mus lag wie ein Leichentuch über dem ganzen Lande ausgebreitet. Schon
zu Anfange der fünfziger Jahre war so, gründlich aufgeräumt, daß nach
unten vollkommene Todtenstille entstand, nach oben schrankenlose Willkür und
Selbstbetrug. Der hochsinnige Geschichtsprofessor Granowski schrieb 1850 :
„Den Priestern ist anbefohlen, den Cadetten zu lehren, daß die Größe Christi
vorzüglich in seiner Ergebenheit gegen die herrschende Macht bestand; er soll
dargestellt werden als ein Vorbild des Gehorsams und der Disciplin. Die
Lehrer der Geschichte müssen die alten Republiken des Flittergoldes der Tugend
entkleiden und die von den Historikern unverstandene Größe des römischen
Kaiserthums beweisen, welches nur den einen Fehler hatte: es kannte die Erb¬
folge nicht." Welche Früchte der Thorheit und Stupidität des autokratischen
Systems strictester Observanz, die Vernichtung des eignen Selbst, die Los¬
sagung vom individuellen Wollen und Denken, gegenüber dem übermüthigen
Drucke jedes Höhergestellten trug, hat Herzen drastisch dargestellt. „Der Guts¬
besitzer pflegt seinem Diener zu sagen: ,Schweig, ich dulde keine Antwortend Ein
Departementschef wird blaß, wenn einer seiner Untergebenen ihm Einwendungen
macht, und sagt ihm: ,Sie vergessen sich, wissen Sie wohl, mit wem Sie reden?
Der Kaiser verweist für „Meinungen" nach Sibirien, quält Menschen wegen ein
Paar Versen in den Casematten zu Tode. Und alle drei sind eher bereit, Dieb¬
stahl, Bestechung, Raub und Mord zu verzeihen, als die Freiheit der mensch¬
lichen Würde und die Dreistigkeit freier Rede." Bulgarin schrieb unter
Nikolaus, außer andern Vortheilen, welche die Eisenbahn zwischen Petersburg
und Moskau gewähre, sei einer, an den man nicht ohne Rührung denken könne:
daß von nun an ein und dieselbe Person würde des Morgens ein Tedeum für
die Gesundheit des Kaisers in der Kathedrale von Kasan hören können und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/179>, abgerufen am 30.05.2024.