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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstudion.

In engem Anschluß an seine Auslegung der aristotelischen Definition von
der Tragödie behauptet Lessing, daß die von Aristoteles geforderte Reinigung
der Leidenschaften in der Seele des Zuschauers nicht eine Reinigung von den
im Stück vorgestellten Leidenschaften bedeute, "Der vorgestellte"? Also wenn
der Held durch Neugierde oder Ehrgeiz oder Liebe oder Zorn ""glücklich wird,
so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen
die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen.
r",."^"^ ?ste,?^ctxrc!ii/ sagt Aristoteles, und das heißt nicht: der vorgestellte"
Leidenschaften; das hätten sie übersetze" müsse" durch: dieser und dergleichen
oder der erweckte" Leidenschaften. Das ro^rin? bezieht sich lediglich auf das
Vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid u"d unsre
Furcht errege", bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle
Leidenschaften oh"e Unterschied zu reinigen" (Dramaturgie, 77. Stück).

Das war deun freilich ein principieller Bruch mit der bisherigen Auffassung,
ein solcher, der eine ganz neue Ansicht von der sittlichen Wirkung des Trauer¬
spiels begründete. Es trägt für die Hauptsache nichts aus, daß Lessing in Folge
unrichtiger Uebersetzung des r"^ rvto^^^ durch: dieser und dergleichen anstatt
dnrch: solcher deu Begriff der gereinigten Affecte unnöthig erweiterte. Für das
System war diese Concession an den mißverstaiideueu Aristoteles ohne jede Be¬
deutung, Der ethische Charakter der tragischen Bühne war erhalten, die banau¬
sische Ungeheuerlichkeit aber von ihrer unmittelbar pädagogischen Tendenz aus¬
geschlossen. Und nur dieser hätte man füglich nachsagen dürfen, daß sie das
Theater in ein moralisches Correetioushaus verkehre.

Die Tragödie der Moralisten hatte nur eine zufällige, veränderliche, vom
jedesmaligen Stoffe abhängige Mvralwirknng im Auge, welche vo" jeder moralische"
Erzählung oder Fabel ohne so viel Aufwand und viel gründlicher gelöst werden
konnte.^) Lessings Reinigung der Leidenschaften ist eine stetige, im Wesen
der Gattung begründete Eigenschaft der Tragödie, die dieser allein unter allen
Dichtarten zukommt, sich aber auch stets vollkommen gleichartig wiederholt, "Ihrem
Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung, so wie die Epopee und
die Komödie; ihrer Gattung nach aber die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung" (77, Stück). So hört die Moral auf, etwas vou außen in die Tragödie
hiueiilgetragnes zu sein, der Dichter hat nicht um sie zu sorgen; das dichterisch
^vllkvmmeuste Trauerspiel wird auch immer am geschicktesten sein, die höchste
ethische Wirkung hervorzubringen.

Es berührt unsere Aufgabe nicht direct, doch ist es vou Interesse hervor¬
zuheben, daß die neuere Forschung über die Wirkung der Tragödie nach Ari-



Ma" vergleiche die classischen Worte um Anfange des tlo. Stilete-Z der Dramaturgie,
Lessingstudion.

In engem Anschluß an seine Auslegung der aristotelischen Definition von
der Tragödie behauptet Lessing, daß die von Aristoteles geforderte Reinigung
der Leidenschaften in der Seele des Zuschauers nicht eine Reinigung von den
im Stück vorgestellten Leidenschaften bedeute, „Der vorgestellte»? Also wenn
der Held durch Neugierde oder Ehrgeiz oder Liebe oder Zorn »»glücklich wird,
so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen
die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen.
r»,.«^«^ ?ste,?^ctxrc!ii/ sagt Aristoteles, und das heißt nicht: der vorgestellte»
Leidenschaften; das hätten sie übersetze» müsse» durch: dieser und dergleichen
oder der erweckte» Leidenschaften. Das ro^rin? bezieht sich lediglich auf das
Vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid u»d unsre
Furcht errege», bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle
Leidenschaften oh»e Unterschied zu reinigen" (Dramaturgie, 77. Stück).

Das war deun freilich ein principieller Bruch mit der bisherigen Auffassung,
ein solcher, der eine ganz neue Ansicht von der sittlichen Wirkung des Trauer¬
spiels begründete. Es trägt für die Hauptsache nichts aus, daß Lessing in Folge
unrichtiger Uebersetzung des r«^ rvto^^^ durch: dieser und dergleichen anstatt
dnrch: solcher deu Begriff der gereinigten Affecte unnöthig erweiterte. Für das
System war diese Concession an den mißverstaiideueu Aristoteles ohne jede Be¬
deutung, Der ethische Charakter der tragischen Bühne war erhalten, die banau¬
sische Ungeheuerlichkeit aber von ihrer unmittelbar pädagogischen Tendenz aus¬
geschlossen. Und nur dieser hätte man füglich nachsagen dürfen, daß sie das
Theater in ein moralisches Correetioushaus verkehre.

Die Tragödie der Moralisten hatte nur eine zufällige, veränderliche, vom
jedesmaligen Stoffe abhängige Mvralwirknng im Auge, welche vo» jeder moralische»
Erzählung oder Fabel ohne so viel Aufwand und viel gründlicher gelöst werden
konnte.^) Lessings Reinigung der Leidenschaften ist eine stetige, im Wesen
der Gattung begründete Eigenschaft der Tragödie, die dieser allein unter allen
Dichtarten zukommt, sich aber auch stets vollkommen gleichartig wiederholt, „Ihrem
Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung, so wie die Epopee und
die Komödie; ihrer Gattung nach aber die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung" (77, Stück). So hört die Moral auf, etwas vou außen in die Tragödie
hiueiilgetragnes zu sein, der Dichter hat nicht um sie zu sorgen; das dichterisch
^vllkvmmeuste Trauerspiel wird auch immer am geschicktesten sein, die höchste
ethische Wirkung hervorzubringen.

Es berührt unsere Aufgabe nicht direct, doch ist es vou Interesse hervor¬
zuheben, daß die neuere Forschung über die Wirkung der Tragödie nach Ari-



Ma» vergleiche die classischen Worte um Anfange des tlo. Stilete-Z der Dramaturgie,
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[0245] Lessingstudion. In engem Anschluß an seine Auslegung der aristotelischen Definition von der Tragödie behauptet Lessing, daß die von Aristoteles geforderte Reinigung der Leidenschaften in der Seele des Zuschauers nicht eine Reinigung von den im Stück vorgestellten Leidenschaften bedeute, „Der vorgestellte»? Also wenn der Held durch Neugierde oder Ehrgeiz oder Liebe oder Zorn »»glücklich wird, so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. r»,.«^«^ ?ste,?^ctxrc!ii/ sagt Aristoteles, und das heißt nicht: der vorgestellte» Leidenschaften; das hätten sie übersetze» müsse» durch: dieser und dergleichen oder der erweckte» Leidenschaften. Das ro^rin? bezieht sich lediglich auf das Vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid u»d unsre Furcht errege», bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften oh»e Unterschied zu reinigen" (Dramaturgie, 77. Stück). Das war deun freilich ein principieller Bruch mit der bisherigen Auffassung, ein solcher, der eine ganz neue Ansicht von der sittlichen Wirkung des Trauer¬ spiels begründete. Es trägt für die Hauptsache nichts aus, daß Lessing in Folge unrichtiger Uebersetzung des r«^ rvto^^^ durch: dieser und dergleichen anstatt dnrch: solcher deu Begriff der gereinigten Affecte unnöthig erweiterte. Für das System war diese Concession an den mißverstaiideueu Aristoteles ohne jede Be¬ deutung, Der ethische Charakter der tragischen Bühne war erhalten, die banau¬ sische Ungeheuerlichkeit aber von ihrer unmittelbar pädagogischen Tendenz aus¬ geschlossen. Und nur dieser hätte man füglich nachsagen dürfen, daß sie das Theater in ein moralisches Correetioushaus verkehre. Die Tragödie der Moralisten hatte nur eine zufällige, veränderliche, vom jedesmaligen Stoffe abhängige Mvralwirknng im Auge, welche vo» jeder moralische» Erzählung oder Fabel ohne so viel Aufwand und viel gründlicher gelöst werden konnte.^) Lessings Reinigung der Leidenschaften ist eine stetige, im Wesen der Gattung begründete Eigenschaft der Tragödie, die dieser allein unter allen Dichtarten zukommt, sich aber auch stets vollkommen gleichartig wiederholt, „Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung, so wie die Epopee und die Komödie; ihrer Gattung nach aber die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung" (77, Stück). So hört die Moral auf, etwas vou außen in die Tragödie hiueiilgetragnes zu sein, der Dichter hat nicht um sie zu sorgen; das dichterisch ^vllkvmmeuste Trauerspiel wird auch immer am geschicktesten sein, die höchste ethische Wirkung hervorzubringen. Es berührt unsere Aufgabe nicht direct, doch ist es vou Interesse hervor¬ zuheben, daß die neuere Forschung über die Wirkung der Tragödie nach Ari- Ma» vergleiche die classischen Worte um Anfange des tlo. Stilete-Z der Dramaturgie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/245>, abgerufen am 09.06.2024.