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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lessingstndien.

hat bisher zwischen Lessings theoretischen Anschauungen und seinem dichterischen
Schaffen einen Widerspruch aufweisen können, niemand wird daher von vorn¬
herein annehmen wollen, der Dichter habe in der "Emilia" diejenigen Regeln
Lügen gestraft, welche er in seinem Jugendbriefwechsel so gut wie später in der
Dramaturgie als unverbrüchliche Grundwahrheiten des dramatischen Schaffens
hinstellte. Das Unglück des Helden muß eine Folge aus seinem Charakter sein --
so lautet also nach Lessing eins jener Grundgesetze der Tragödie, d. h, in unser
ästhetische Kunstsprache übersetzt: die Katastrophe muß sich aus der Schuld des
Helden herleiten. Sehen wir, ob dieses Gesetz in der "Emilia Galotti" befolgt ist.

Aber wer ist der Held des Stückes? Diese Frage ist so überflüssig nicht,
wie sie zuerst erscheinen möchte. Erst vor kurzem hat Julian Schmidt (Im
neuen Reich 1877. II, 280 ff.) zu erweisen gesucht, daß nicht Emilia, welche
bisher allgemein als die Hauptperson betrachtet wurde, sondern daß der Prinz
der Held der Tragödie sei. Und er beruft sich dabei auf Lessings eigne Worte.
"Weil das Stück Emilia heißt," schreibt Lessing am 10. Februar 1772 an seinen
Bruder Karl, "ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervor¬
stechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz
und gar nicht. Die Alten nannte" ihre Stücke wohl nach Personen, die gar
nicht aufs Theater kamen." Man hat hiergegen eingewendet und trifft damit
jedenfalls den Sinn der Lessingschen Worte vollständig, daß auch ein nicht hervor¬
stechender Charakter der Held einer Tragödie sein könne.*) Aber an sich ist es freilich
nicht unmöglich, Lessings Worten auch eine andere Deutung unterzulegen, und man
muß gestehei?, daß der Zusammenhang, in welchen Lessing sie gestellt hat, zu dieser
Deutung einzuladen scheint. Ich meine den Zusammenhang mit der Titelfrage. Man
weiß aus der Dramaturgie zur Genüge, wie liberal Lessing in dieser Frage dachte.
Er hat es wiederholt ausgesprochen, daß der Titel eines Stückes eine wahre Kleinig¬
keit sei, daß er weder den Inhalt anzuzeigen noch zu erschöpfen brauche (17. Stück),
daß ihn auch die Alten für ganz unerheblich hielten (29. Stück), aber er hat
niemals unterlassen hinzuzufügen, daß er doch auch nicht irreführen solle, nicht
unsre Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richten dürfe. Und das thäte
doch wohl der Titel unsers Stückes, wenn nicht Emilia sondern der Prinz als
die Hauptperson anzusehen wäre. Die Worte Lessings an der angeführten Stelle,
falls sie überhaupt einen Sinn haben, können daher nicht besagen, das Stück
führe freilich den Titel "Emilia Galotti", aber diese sei nicht die Heldin, viel¬
mehr kann die Bedeutung seiner Worte nur die sein: die Hauptperson eines
Stückes brauche uicht immer die thätigste in demselben zu sein. Und was die
Bemerkung Lessings angeht: die Alten nannten ihre Stücke wohl nach Per-



*) B. Arnold, Lessings Emilia Galotti. Progr. des Gymnasiums zu Chemnitz 1880. S. 6.
Lessingstndien.

hat bisher zwischen Lessings theoretischen Anschauungen und seinem dichterischen
Schaffen einen Widerspruch aufweisen können, niemand wird daher von vorn¬
herein annehmen wollen, der Dichter habe in der „Emilia" diejenigen Regeln
Lügen gestraft, welche er in seinem Jugendbriefwechsel so gut wie später in der
Dramaturgie als unverbrüchliche Grundwahrheiten des dramatischen Schaffens
hinstellte. Das Unglück des Helden muß eine Folge aus seinem Charakter sein —
so lautet also nach Lessing eins jener Grundgesetze der Tragödie, d. h, in unser
ästhetische Kunstsprache übersetzt: die Katastrophe muß sich aus der Schuld des
Helden herleiten. Sehen wir, ob dieses Gesetz in der „Emilia Galotti" befolgt ist.

Aber wer ist der Held des Stückes? Diese Frage ist so überflüssig nicht,
wie sie zuerst erscheinen möchte. Erst vor kurzem hat Julian Schmidt (Im
neuen Reich 1877. II, 280 ff.) zu erweisen gesucht, daß nicht Emilia, welche
bisher allgemein als die Hauptperson betrachtet wurde, sondern daß der Prinz
der Held der Tragödie sei. Und er beruft sich dabei auf Lessings eigne Worte.
„Weil das Stück Emilia heißt," schreibt Lessing am 10. Februar 1772 an seinen
Bruder Karl, „ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervor¬
stechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz
und gar nicht. Die Alten nannte» ihre Stücke wohl nach Personen, die gar
nicht aufs Theater kamen." Man hat hiergegen eingewendet und trifft damit
jedenfalls den Sinn der Lessingschen Worte vollständig, daß auch ein nicht hervor¬
stechender Charakter der Held einer Tragödie sein könne.*) Aber an sich ist es freilich
nicht unmöglich, Lessings Worten auch eine andere Deutung unterzulegen, und man
muß gestehei?, daß der Zusammenhang, in welchen Lessing sie gestellt hat, zu dieser
Deutung einzuladen scheint. Ich meine den Zusammenhang mit der Titelfrage. Man
weiß aus der Dramaturgie zur Genüge, wie liberal Lessing in dieser Frage dachte.
Er hat es wiederholt ausgesprochen, daß der Titel eines Stückes eine wahre Kleinig¬
keit sei, daß er weder den Inhalt anzuzeigen noch zu erschöpfen brauche (17. Stück),
daß ihn auch die Alten für ganz unerheblich hielten (29. Stück), aber er hat
niemals unterlassen hinzuzufügen, daß er doch auch nicht irreführen solle, nicht
unsre Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richten dürfe. Und das thäte
doch wohl der Titel unsers Stückes, wenn nicht Emilia sondern der Prinz als
die Hauptperson anzusehen wäre. Die Worte Lessings an der angeführten Stelle,
falls sie überhaupt einen Sinn haben, können daher nicht besagen, das Stück
führe freilich den Titel „Emilia Galotti", aber diese sei nicht die Heldin, viel¬
mehr kann die Bedeutung seiner Worte nur die sein: die Hauptperson eines
Stückes brauche uicht immer die thätigste in demselben zu sein. Und was die
Bemerkung Lessings angeht: die Alten nannten ihre Stücke wohl nach Per-



*) B. Arnold, Lessings Emilia Galotti. Progr. des Gymnasiums zu Chemnitz 1880. S. 6.
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[0303] Lessingstndien. hat bisher zwischen Lessings theoretischen Anschauungen und seinem dichterischen Schaffen einen Widerspruch aufweisen können, niemand wird daher von vorn¬ herein annehmen wollen, der Dichter habe in der „Emilia" diejenigen Regeln Lügen gestraft, welche er in seinem Jugendbriefwechsel so gut wie später in der Dramaturgie als unverbrüchliche Grundwahrheiten des dramatischen Schaffens hinstellte. Das Unglück des Helden muß eine Folge aus seinem Charakter sein — so lautet also nach Lessing eins jener Grundgesetze der Tragödie, d. h, in unser ästhetische Kunstsprache übersetzt: die Katastrophe muß sich aus der Schuld des Helden herleiten. Sehen wir, ob dieses Gesetz in der „Emilia Galotti" befolgt ist. Aber wer ist der Held des Stückes? Diese Frage ist so überflüssig nicht, wie sie zuerst erscheinen möchte. Erst vor kurzem hat Julian Schmidt (Im neuen Reich 1877. II, 280 ff.) zu erweisen gesucht, daß nicht Emilia, welche bisher allgemein als die Hauptperson betrachtet wurde, sondern daß der Prinz der Held der Tragödie sei. Und er beruft sich dabei auf Lessings eigne Worte. „Weil das Stück Emilia heißt," schreibt Lessing am 10. Februar 1772 an seinen Bruder Karl, „ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervor¬ stechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht. Die Alten nannte» ihre Stücke wohl nach Personen, die gar nicht aufs Theater kamen." Man hat hiergegen eingewendet und trifft damit jedenfalls den Sinn der Lessingschen Worte vollständig, daß auch ein nicht hervor¬ stechender Charakter der Held einer Tragödie sein könne.*) Aber an sich ist es freilich nicht unmöglich, Lessings Worten auch eine andere Deutung unterzulegen, und man muß gestehei?, daß der Zusammenhang, in welchen Lessing sie gestellt hat, zu dieser Deutung einzuladen scheint. Ich meine den Zusammenhang mit der Titelfrage. Man weiß aus der Dramaturgie zur Genüge, wie liberal Lessing in dieser Frage dachte. Er hat es wiederholt ausgesprochen, daß der Titel eines Stückes eine wahre Kleinig¬ keit sei, daß er weder den Inhalt anzuzeigen noch zu erschöpfen brauche (17. Stück), daß ihn auch die Alten für ganz unerheblich hielten (29. Stück), aber er hat niemals unterlassen hinzuzufügen, daß er doch auch nicht irreführen solle, nicht unsre Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richten dürfe. Und das thäte doch wohl der Titel unsers Stückes, wenn nicht Emilia sondern der Prinz als die Hauptperson anzusehen wäre. Die Worte Lessings an der angeführten Stelle, falls sie überhaupt einen Sinn haben, können daher nicht besagen, das Stück führe freilich den Titel „Emilia Galotti", aber diese sei nicht die Heldin, viel¬ mehr kann die Bedeutung seiner Worte nur die sein: die Hauptperson eines Stückes brauche uicht immer die thätigste in demselben zu sein. Und was die Bemerkung Lessings angeht: die Alten nannten ihre Stücke wohl nach Per- *) B. Arnold, Lessings Emilia Galotti. Progr. des Gymnasiums zu Chemnitz 1880. S. 6.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/303>, abgerufen am 30.05.2024.