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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructive" Elemente im Staate,

Die Verzweiflung am Recht muß nothwendig eintreten, wenn in einem
Staate, sei es von oben in den Maßregeln und Zielen, sei es von unten in
der Handhabung der Gesetze durch die Beamten, Vernunft und Recht gebeugt
wird, und die gesetzliche" Widerstandsmittcl dagegen in. a. iluabhäugige Kritik,
Presse, Justiz) überhaupt nicht vorhanden sind. Dies war in Rußland zu Zeiten
des Zaren Nicolaus der Fall, wo jeder Widerspruch schon als solcher strafbar
war. Es ist der Fall in allen barbarischen Staaten, wo es nur Macht und
Gunst, aber kein Recht giebt. Die Verzweiflung am Recht tritt ferner ein,
wenn zwar gesetzlicher Widerstand gegen irgeud ein Unrecht möglich ist, aber
die thatsächliche Ausübung "ut der praktische Erfolg dieses Widcrstandsrechtes
dnrch Beamtenwillkür und deren Machtcliquen illusorisch gemacht wird und in
seiner gesetzmüßigen Wirkung versagt. Was nützen die besten Gesetze, wenn sie
durch ungerechte Uebertragung in die sinnlichen Formen wirkungslos werden?
Mehr oder weniger liegt eine solche Gefahr bei allen Culturstaaten mit großen
Bcamtenorganisationcn vor.

Dasjenige, was den Staatsgesetzen Macht giebt, besteht nicht in ihrer sin-
gulüre" sinnlichen Handhabung, souderu in einem Uebersinnlichen, welches neben
jeder gesetzlichen oder ungesetzlichen Handlung unsichtbar einherwaudelt und Unter¬
werfung oder Widerstand in der Menschenbrust hervorruft. Wie es der schönste
Lohn aller wahren Bildung des einzelnen ist, für andere ein Vorbild zu sein,
so sollte der Staat ein Gcsammtvorbild und ein großes nationales Beispiel für
die Ideen der Gottesfurcht, der Gerechtigkeit und der Ordnung sein. Ist er
das Gegentheil, auch nur in der Willkür seines kleinsten Dieners, so erhebt sich
dagegen der Widerstand desjenigen, den die Willkür getroffen hat. Sieht
dieser ein oder weiß er ans Erfahrung, daß ein gesetzlicher Widerstand wegen
der Beaintenallmacht zu nichts führt, so wird er schweige" und keinen Wider¬
stand leisten. Er macht vielleicht einen Cvmpromiß mit dem Unrecht, er läßt
sich bedrücken und erpressen. Aber die übersinnliche sittliche Stimme in seinem
Innern, welche ihn zum Widerstände antrieb, kan" er nicht zum Schweige"
bringe"; der gesetzliche Weg ist wirkungslos -- er betritt den ungesetzlichen,
destruetiveu, gewaltthätigen -- er hilft sich selbst, da der Staat ihm nicht
mehr hilft. Der Staat, welcher die Möglichkeit, in gesetzliche" Formen gegen
das Unrecht, auch das vermeintliche Unrecht, Widerstand zu leisten ausschließt
oder verkümmert, ist selber die Veraulasslmg, sich die edelsten Kräfte der Mit¬
arbeit an dem gesetzlichen Aufbau des Staates zu entfremden und eines der
höchsten Attribute der Menschenwürde, den sittlichen Widerstand gegen das Un¬
recht, der nicht stumm gemacht werden kann, zur gesetzlose", destruetiven Aeuße¬
rung zu bringe"; den" ob der Bedrückte schweigt, sich erpresst" läßt und selbst


Die destructive» Elemente im Staate,

Die Verzweiflung am Recht muß nothwendig eintreten, wenn in einem
Staate, sei es von oben in den Maßregeln und Zielen, sei es von unten in
der Handhabung der Gesetze durch die Beamten, Vernunft und Recht gebeugt
wird, und die gesetzliche» Widerstandsmittcl dagegen in. a. iluabhäugige Kritik,
Presse, Justiz) überhaupt nicht vorhanden sind. Dies war in Rußland zu Zeiten
des Zaren Nicolaus der Fall, wo jeder Widerspruch schon als solcher strafbar
war. Es ist der Fall in allen barbarischen Staaten, wo es nur Macht und
Gunst, aber kein Recht giebt. Die Verzweiflung am Recht tritt ferner ein,
wenn zwar gesetzlicher Widerstand gegen irgeud ein Unrecht möglich ist, aber
die thatsächliche Ausübung »ut der praktische Erfolg dieses Widcrstandsrechtes
dnrch Beamtenwillkür und deren Machtcliquen illusorisch gemacht wird und in
seiner gesetzmüßigen Wirkung versagt. Was nützen die besten Gesetze, wenn sie
durch ungerechte Uebertragung in die sinnlichen Formen wirkungslos werden?
Mehr oder weniger liegt eine solche Gefahr bei allen Culturstaaten mit großen
Bcamtenorganisationcn vor.

Dasjenige, was den Staatsgesetzen Macht giebt, besteht nicht in ihrer sin-
gulüre» sinnlichen Handhabung, souderu in einem Uebersinnlichen, welches neben
jeder gesetzlichen oder ungesetzlichen Handlung unsichtbar einherwaudelt und Unter¬
werfung oder Widerstand in der Menschenbrust hervorruft. Wie es der schönste
Lohn aller wahren Bildung des einzelnen ist, für andere ein Vorbild zu sein,
so sollte der Staat ein Gcsammtvorbild und ein großes nationales Beispiel für
die Ideen der Gottesfurcht, der Gerechtigkeit und der Ordnung sein. Ist er
das Gegentheil, auch nur in der Willkür seines kleinsten Dieners, so erhebt sich
dagegen der Widerstand desjenigen, den die Willkür getroffen hat. Sieht
dieser ein oder weiß er ans Erfahrung, daß ein gesetzlicher Widerstand wegen
der Beaintenallmacht zu nichts führt, so wird er schweige» und keinen Wider¬
stand leisten. Er macht vielleicht einen Cvmpromiß mit dem Unrecht, er läßt
sich bedrücken und erpressen. Aber die übersinnliche sittliche Stimme in seinem
Innern, welche ihn zum Widerstände antrieb, kan» er nicht zum Schweige»
bringe»; der gesetzliche Weg ist wirkungslos — er betritt den ungesetzlichen,
destruetiveu, gewaltthätigen — er hilft sich selbst, da der Staat ihm nicht
mehr hilft. Der Staat, welcher die Möglichkeit, in gesetzliche» Formen gegen
das Unrecht, auch das vermeintliche Unrecht, Widerstand zu leisten ausschließt
oder verkümmert, ist selber die Veraulasslmg, sich die edelsten Kräfte der Mit¬
arbeit an dem gesetzlichen Aufbau des Staates zu entfremden und eines der
höchsten Attribute der Menschenwürde, den sittlichen Widerstand gegen das Un¬
recht, der nicht stumm gemacht werden kann, zur gesetzlose», destruetiven Aeuße¬
rung zu bringe»; den» ob der Bedrückte schweigt, sich erpresst» läßt und selbst


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[0361] Die destructive» Elemente im Staate, Die Verzweiflung am Recht muß nothwendig eintreten, wenn in einem Staate, sei es von oben in den Maßregeln und Zielen, sei es von unten in der Handhabung der Gesetze durch die Beamten, Vernunft und Recht gebeugt wird, und die gesetzliche» Widerstandsmittcl dagegen in. a. iluabhäugige Kritik, Presse, Justiz) überhaupt nicht vorhanden sind. Dies war in Rußland zu Zeiten des Zaren Nicolaus der Fall, wo jeder Widerspruch schon als solcher strafbar war. Es ist der Fall in allen barbarischen Staaten, wo es nur Macht und Gunst, aber kein Recht giebt. Die Verzweiflung am Recht tritt ferner ein, wenn zwar gesetzlicher Widerstand gegen irgeud ein Unrecht möglich ist, aber die thatsächliche Ausübung »ut der praktische Erfolg dieses Widcrstandsrechtes dnrch Beamtenwillkür und deren Machtcliquen illusorisch gemacht wird und in seiner gesetzmüßigen Wirkung versagt. Was nützen die besten Gesetze, wenn sie durch ungerechte Uebertragung in die sinnlichen Formen wirkungslos werden? Mehr oder weniger liegt eine solche Gefahr bei allen Culturstaaten mit großen Bcamtenorganisationcn vor. Dasjenige, was den Staatsgesetzen Macht giebt, besteht nicht in ihrer sin- gulüre» sinnlichen Handhabung, souderu in einem Uebersinnlichen, welches neben jeder gesetzlichen oder ungesetzlichen Handlung unsichtbar einherwaudelt und Unter¬ werfung oder Widerstand in der Menschenbrust hervorruft. Wie es der schönste Lohn aller wahren Bildung des einzelnen ist, für andere ein Vorbild zu sein, so sollte der Staat ein Gcsammtvorbild und ein großes nationales Beispiel für die Ideen der Gottesfurcht, der Gerechtigkeit und der Ordnung sein. Ist er das Gegentheil, auch nur in der Willkür seines kleinsten Dieners, so erhebt sich dagegen der Widerstand desjenigen, den die Willkür getroffen hat. Sieht dieser ein oder weiß er ans Erfahrung, daß ein gesetzlicher Widerstand wegen der Beaintenallmacht zu nichts führt, so wird er schweige» und keinen Wider¬ stand leisten. Er macht vielleicht einen Cvmpromiß mit dem Unrecht, er läßt sich bedrücken und erpressen. Aber die übersinnliche sittliche Stimme in seinem Innern, welche ihn zum Widerstände antrieb, kan» er nicht zum Schweige» bringe»; der gesetzliche Weg ist wirkungslos — er betritt den ungesetzlichen, destruetiveu, gewaltthätigen — er hilft sich selbst, da der Staat ihm nicht mehr hilft. Der Staat, welcher die Möglichkeit, in gesetzliche» Formen gegen das Unrecht, auch das vermeintliche Unrecht, Widerstand zu leisten ausschließt oder verkümmert, ist selber die Veraulasslmg, sich die edelsten Kräfte der Mit¬ arbeit an dem gesetzlichen Aufbau des Staates zu entfremden und eines der höchsten Attribute der Menschenwürde, den sittlichen Widerstand gegen das Un¬ recht, der nicht stumm gemacht werden kann, zur gesetzlose», destruetiven Aeuße¬ rung zu bringe»; den» ob der Bedrückte schweigt, sich erpresst» läßt und selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/361>, abgerufen am 28.05.2024.