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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

erpreßt und besticht, oder dies nicht thut, aber mit gesetzlosen Mitteln gegen
die Bedrückung Revresalie übt, sich selbst hilft, ist in beiden Fällen eine destruc¬
tive Aeußerung. Im letztern Falle zeugt sie doch noch von Kraft, im erstem
ist sie ein Zeichen der Schwäche und des sittlichen Verfalls. In der Türkei
existiren ausgezeichnete Gesetze, aber durch lässige, bestechliche Beamte und un¬
gerechte Richter ist der gute Geist des Unsichtbaren, welches aus jedem Gesetze
auf die Menge einwirkt, in einen teuflischen Geist verwandelt worden, der die
ganze Bevölkerung corrumpirt hat. Ohne Trinkgeld und Bestechung ist das
kaufmännische Leben in Stambul, ja jedes Geschäft mit Beamten und Regierung
undenkbar und erfolglos. Wer also überhaupt in dieser Luft leben muß, muß
auch ihre Miasmen einathmen. So kommt es, daß selbst der ehrliebende Aus¬
länder, sobald er nach Stambul kommt, gezwungen wird, zu besteche", um Gunst
und Gerechtigkeit zu buhlen und zu werben, denn will er sich davon rein er¬
halten, so muß er sich vollständig isoliren und unverstanden auf sich angewiesen
bleiben. Die einzelne Ungerechtigkeit trifft in ihren sinnlichen Folgen zunächst
zwar nur den einzelnen, aber übersinnlich, unsichtbar entquillt ihr der finstere
Geist der Lüge und der Rechtsverletzung, unsichtbar häuft er sich auf und theilt
sich größern Kreisen mit. Das Vertrauen schwindet, daß der Staat überall das
Recht schützen könne, Haß und Erbitterung treten an Stelle von Gehorsam und
Unterwerfung. Das ganze Volk durchschaut schließlich die Lüge, welche das
Unrecht im Amtskleide gewaltsam schützt und ehrt. Die ungeheuerliche Zu-
muthung an das sittliche Urtheil, aus gesetzlichem Zwange Lüge für Wahrheit
halten, die Schandthat mit der Glorie des Gesetzes und des Rechts bekleidet
verehren zu müssen, diese fortwährende Sünde wider den heiligen Geist wirkt
vernichtend auf die Volksseele und führt ein Volk wie in Spanien und in der
Türkei entweder zu stumpfsinniger Apathie oder wie in Rußland zur alles um¬
stürzenden Revolution. Dies ist eine nothwendige Folge, weil das Unrecht,
gegen das es keine Instanz mehr giebt, die beiden größten sittlichen Axiome
verleugnet: erstens, daß der übersinnliche Grund der Sittlichkeit, welcher uns
zum Widerstande gegen das Unrecht antreibt, auch zugleich der Grund sei
dafür, daß die sittlichen Forderungen auch in dieser sinnlichen Erscheinungs¬
welt schließlich zum Siege gelangen müssen, und zweitens, daß daher auch der
praktische Erfolg und Nutzen, im großen betrachtet, auf Seiten dessen stehen
muß, welcher die Forderungen der Sittlichkeit und des Rechts nach Kräften
erfüllt. Daher erweckt das Unrecht, das der einzelne begeht, das Gefühl des
Abscheus, aber das Unrecht, welches der Staat oder seine Beamten im Namen
des Gesetzes begehen, läßt die Menge außerdem den Glauben an die Allmacht
der sittlichen Weltordnung (deren sinnlicher Vertreter der Staat ist) verlieren


Die destructiven Elemente im Staate.

erpreßt und besticht, oder dies nicht thut, aber mit gesetzlosen Mitteln gegen
die Bedrückung Revresalie übt, sich selbst hilft, ist in beiden Fällen eine destruc¬
tive Aeußerung. Im letztern Falle zeugt sie doch noch von Kraft, im erstem
ist sie ein Zeichen der Schwäche und des sittlichen Verfalls. In der Türkei
existiren ausgezeichnete Gesetze, aber durch lässige, bestechliche Beamte und un¬
gerechte Richter ist der gute Geist des Unsichtbaren, welches aus jedem Gesetze
auf die Menge einwirkt, in einen teuflischen Geist verwandelt worden, der die
ganze Bevölkerung corrumpirt hat. Ohne Trinkgeld und Bestechung ist das
kaufmännische Leben in Stambul, ja jedes Geschäft mit Beamten und Regierung
undenkbar und erfolglos. Wer also überhaupt in dieser Luft leben muß, muß
auch ihre Miasmen einathmen. So kommt es, daß selbst der ehrliebende Aus¬
länder, sobald er nach Stambul kommt, gezwungen wird, zu besteche», um Gunst
und Gerechtigkeit zu buhlen und zu werben, denn will er sich davon rein er¬
halten, so muß er sich vollständig isoliren und unverstanden auf sich angewiesen
bleiben. Die einzelne Ungerechtigkeit trifft in ihren sinnlichen Folgen zunächst
zwar nur den einzelnen, aber übersinnlich, unsichtbar entquillt ihr der finstere
Geist der Lüge und der Rechtsverletzung, unsichtbar häuft er sich auf und theilt
sich größern Kreisen mit. Das Vertrauen schwindet, daß der Staat überall das
Recht schützen könne, Haß und Erbitterung treten an Stelle von Gehorsam und
Unterwerfung. Das ganze Volk durchschaut schließlich die Lüge, welche das
Unrecht im Amtskleide gewaltsam schützt und ehrt. Die ungeheuerliche Zu-
muthung an das sittliche Urtheil, aus gesetzlichem Zwange Lüge für Wahrheit
halten, die Schandthat mit der Glorie des Gesetzes und des Rechts bekleidet
verehren zu müssen, diese fortwährende Sünde wider den heiligen Geist wirkt
vernichtend auf die Volksseele und führt ein Volk wie in Spanien und in der
Türkei entweder zu stumpfsinniger Apathie oder wie in Rußland zur alles um¬
stürzenden Revolution. Dies ist eine nothwendige Folge, weil das Unrecht,
gegen das es keine Instanz mehr giebt, die beiden größten sittlichen Axiome
verleugnet: erstens, daß der übersinnliche Grund der Sittlichkeit, welcher uns
zum Widerstande gegen das Unrecht antreibt, auch zugleich der Grund sei
dafür, daß die sittlichen Forderungen auch in dieser sinnlichen Erscheinungs¬
welt schließlich zum Siege gelangen müssen, und zweitens, daß daher auch der
praktische Erfolg und Nutzen, im großen betrachtet, auf Seiten dessen stehen
muß, welcher die Forderungen der Sittlichkeit und des Rechts nach Kräften
erfüllt. Daher erweckt das Unrecht, das der einzelne begeht, das Gefühl des
Abscheus, aber das Unrecht, welches der Staat oder seine Beamten im Namen
des Gesetzes begehen, läßt die Menge außerdem den Glauben an die Allmacht
der sittlichen Weltordnung (deren sinnlicher Vertreter der Staat ist) verlieren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/362>, abgerufen am 14.05.2024.