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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Zur logische Frage.

und die Aufgabe der Logik in der Geschichte. Es giebt eben darum überhaupt
erst seit Hegel eine wahrhaft große und brennende logische Frage in der Philo¬
sophie, und es schließt sich an dieselbe zugleich das Buch des Verfassers dieses
Aufsatzes "Hegel und die logische Frage der Philosophie in der Gegenwart"
(Leipzig, M. Schäfer, 1878) an.

Wenn der Standpunkt irgend eines großen Philosophen in der Geschichte
durch den Fortgang der Zeit überschritten worden ist, so folgt hieraus noch nicht,
daß derselbe einmal und für immer abgethan oder überwunden worden sei. Wir
haben es kürzlich erlebt, daß der Ruf nach der Rückkehr oder der Wieder¬
anknüpfung an Kant unter uns erklungen ist. Dieser Ruf hat infofern eine be¬
stimmte Berechtigung, als Kant unverkennbar der Stammvater der ganzen auf
ihn folgenden neuern deutschen Philosophie ist. Man greift naturgemäß zurück
zur Wurzel oder zum ersten Ausgangspunkte eines Weges, wenn man bemerkt,
daß man von da an irgendwo fehl gegangen ist oder sich in der Irre verlaufen
hat. Dies scheint in der That der Fall zu fein im Hinblick auf die offenbar
einseitigen un>) übertriebnen Versuche einer idealistischen Speenlntion in den
Lehren von Fichte, Schelling und Hegel. Man hört von allen diesen unmittel¬
baren Nachfolgern Kants jetzt wenig mehr reden, während das philosophische
Denken unsrer eignen Gegenwart in verschiedner, wohl mehr oder weniger be¬
rechtigter Weise wiederum mit Kant selbst Fühlung zu gewinnen versucht. Hegel
namentlich, der jüngste Ausläufer dieser idealistischen Richtung, ist zur Zeit bei¬
nahe vollständig verschollen, und es ist auch nichts leichter und wohlfeiler, als
auf die Ungeheuerlichkeiten und Extravaganzen in der ganzen Art und Weise
des Hegelschen Denkens hinzuweisen. Immer aber find alles dieses doch Mittel¬
glieder, durch welche wir fortwährend mit Kant zusammenhängen oder an ihn
gebunden sind. Was sind wir denn aber überhaupt jetzt in der Philosophie,
oder was ist aus der deutschen Philosophie geworden, seitdem Hegel und sein
logischer Idealismus vom Schauplatze abgetreten ist? Die Antwort hierauf kann
weder sehr bestimmt noch auch sehr erfreulich lauten. Ein großes und ent¬
scheidendes wissenschaftliches Shstem mindestens ist auf Hegel nicht mehr gefolgt.
Wir haben die Irrthümer Hegels erkannt, aber diese Irrthümer sind schwerlich
ausreichend, ihn einfach und schlechthin zu den Todten zu werfen. Mau kehre
zunächst nur einmal um bis auf Hegel, um sich darüber zu orientiren, was man
seitdem geworden ist und ob wir wahrhaft aufwärts oder abwärts gekommen
sind in der Philosophie. Dort war wenigstens noch eine bestimmte wissenschaft¬
liche Fnync, die den ganzen Gedanken oder das Princip der Philosophie in
Deutschland vertrat. Sind wir wahrhaft am Ende und bankerott geworden mit
unserm Capitale der geistigen Speculation? Oder ist der jetzt herrschend ge-


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Zur logische Frage.

und die Aufgabe der Logik in der Geschichte. Es giebt eben darum überhaupt
erst seit Hegel eine wahrhaft große und brennende logische Frage in der Philo¬
sophie, und es schließt sich an dieselbe zugleich das Buch des Verfassers dieses
Aufsatzes „Hegel und die logische Frage der Philosophie in der Gegenwart"
(Leipzig, M. Schäfer, 1878) an.

Wenn der Standpunkt irgend eines großen Philosophen in der Geschichte
durch den Fortgang der Zeit überschritten worden ist, so folgt hieraus noch nicht,
daß derselbe einmal und für immer abgethan oder überwunden worden sei. Wir
haben es kürzlich erlebt, daß der Ruf nach der Rückkehr oder der Wieder¬
anknüpfung an Kant unter uns erklungen ist. Dieser Ruf hat infofern eine be¬
stimmte Berechtigung, als Kant unverkennbar der Stammvater der ganzen auf
ihn folgenden neuern deutschen Philosophie ist. Man greift naturgemäß zurück
zur Wurzel oder zum ersten Ausgangspunkte eines Weges, wenn man bemerkt,
daß man von da an irgendwo fehl gegangen ist oder sich in der Irre verlaufen
hat. Dies scheint in der That der Fall zu fein im Hinblick auf die offenbar
einseitigen un>) übertriebnen Versuche einer idealistischen Speenlntion in den
Lehren von Fichte, Schelling und Hegel. Man hört von allen diesen unmittel¬
baren Nachfolgern Kants jetzt wenig mehr reden, während das philosophische
Denken unsrer eignen Gegenwart in verschiedner, wohl mehr oder weniger be¬
rechtigter Weise wiederum mit Kant selbst Fühlung zu gewinnen versucht. Hegel
namentlich, der jüngste Ausläufer dieser idealistischen Richtung, ist zur Zeit bei¬
nahe vollständig verschollen, und es ist auch nichts leichter und wohlfeiler, als
auf die Ungeheuerlichkeiten und Extravaganzen in der ganzen Art und Weise
des Hegelschen Denkens hinzuweisen. Immer aber find alles dieses doch Mittel¬
glieder, durch welche wir fortwährend mit Kant zusammenhängen oder an ihn
gebunden sind. Was sind wir denn aber überhaupt jetzt in der Philosophie,
oder was ist aus der deutschen Philosophie geworden, seitdem Hegel und sein
logischer Idealismus vom Schauplatze abgetreten ist? Die Antwort hierauf kann
weder sehr bestimmt noch auch sehr erfreulich lauten. Ein großes und ent¬
scheidendes wissenschaftliches Shstem mindestens ist auf Hegel nicht mehr gefolgt.
Wir haben die Irrthümer Hegels erkannt, aber diese Irrthümer sind schwerlich
ausreichend, ihn einfach und schlechthin zu den Todten zu werfen. Mau kehre
zunächst nur einmal um bis auf Hegel, um sich darüber zu orientiren, was man
seitdem geworden ist und ob wir wahrhaft aufwärts oder abwärts gekommen
sind in der Philosophie. Dort war wenigstens noch eine bestimmte wissenschaft¬
liche Fnync, die den ganzen Gedanken oder das Princip der Philosophie in
Deutschland vertrat. Sind wir wahrhaft am Ende und bankerott geworden mit
unserm Capitale der geistigen Speculation? Oder ist der jetzt herrschend ge-


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[0381] Zur logische Frage. und die Aufgabe der Logik in der Geschichte. Es giebt eben darum überhaupt erst seit Hegel eine wahrhaft große und brennende logische Frage in der Philo¬ sophie, und es schließt sich an dieselbe zugleich das Buch des Verfassers dieses Aufsatzes „Hegel und die logische Frage der Philosophie in der Gegenwart" (Leipzig, M. Schäfer, 1878) an. Wenn der Standpunkt irgend eines großen Philosophen in der Geschichte durch den Fortgang der Zeit überschritten worden ist, so folgt hieraus noch nicht, daß derselbe einmal und für immer abgethan oder überwunden worden sei. Wir haben es kürzlich erlebt, daß der Ruf nach der Rückkehr oder der Wieder¬ anknüpfung an Kant unter uns erklungen ist. Dieser Ruf hat infofern eine be¬ stimmte Berechtigung, als Kant unverkennbar der Stammvater der ganzen auf ihn folgenden neuern deutschen Philosophie ist. Man greift naturgemäß zurück zur Wurzel oder zum ersten Ausgangspunkte eines Weges, wenn man bemerkt, daß man von da an irgendwo fehl gegangen ist oder sich in der Irre verlaufen hat. Dies scheint in der That der Fall zu fein im Hinblick auf die offenbar einseitigen un>) übertriebnen Versuche einer idealistischen Speenlntion in den Lehren von Fichte, Schelling und Hegel. Man hört von allen diesen unmittel¬ baren Nachfolgern Kants jetzt wenig mehr reden, während das philosophische Denken unsrer eignen Gegenwart in verschiedner, wohl mehr oder weniger be¬ rechtigter Weise wiederum mit Kant selbst Fühlung zu gewinnen versucht. Hegel namentlich, der jüngste Ausläufer dieser idealistischen Richtung, ist zur Zeit bei¬ nahe vollständig verschollen, und es ist auch nichts leichter und wohlfeiler, als auf die Ungeheuerlichkeiten und Extravaganzen in der ganzen Art und Weise des Hegelschen Denkens hinzuweisen. Immer aber find alles dieses doch Mittel¬ glieder, durch welche wir fortwährend mit Kant zusammenhängen oder an ihn gebunden sind. Was sind wir denn aber überhaupt jetzt in der Philosophie, oder was ist aus der deutschen Philosophie geworden, seitdem Hegel und sein logischer Idealismus vom Schauplatze abgetreten ist? Die Antwort hierauf kann weder sehr bestimmt noch auch sehr erfreulich lauten. Ein großes und ent¬ scheidendes wissenschaftliches Shstem mindestens ist auf Hegel nicht mehr gefolgt. Wir haben die Irrthümer Hegels erkannt, aber diese Irrthümer sind schwerlich ausreichend, ihn einfach und schlechthin zu den Todten zu werfen. Mau kehre zunächst nur einmal um bis auf Hegel, um sich darüber zu orientiren, was man seitdem geworden ist und ob wir wahrhaft aufwärts oder abwärts gekommen sind in der Philosophie. Dort war wenigstens noch eine bestimmte wissenschaft¬ liche Fnync, die den ganzen Gedanken oder das Princip der Philosophie in Deutschland vertrat. Sind wir wahrhaft am Ende und bankerott geworden mit unserm Capitale der geistigen Speculation? Oder ist der jetzt herrschend ge- Grmztwtcn I. 1L8I. 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/381>, abgerufen am 15.05.2024.