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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Sprachliche Neubildungen.

der gesunden und kranken Sprache" nennen oder, nach Art von Rosenkranz'
"Aesthetik des Häßlichen," eine "Grammatik des Falschen." Ich wünschte, dies
Buch läge auf dem Arbeitstische jedes Schulmeisters, auf dem Redactionstische
jeder Zeitung. Jeder, auch der Sprachkundigste, kann daraus lernen, und wäre
es nur die beruhigende Bestätigung eigner Beobachtungen. Vor allem ist es
freilich für die Unsicher" bestimmt, die den guten Willen haben, rein und richtig
zu schreiben; durch ein praktisches Register ist dafür gesorgt, daß sie in jeden:
Zweifelsfalle die gewünschte Aufklärung rasch finden können.

Ich behalte mir vor, auf eiuzelue Capitel dieses verdienstvollen Buches ge¬
legentlich näher einzugehen und meine eignen Beobachtungen mit denen des Ver¬
fassers zu verbinden. Für diesmal möchte ich nur eine Erscheinung zur Sprache
bringen, die Autrefer wohl auch gelegentlich streift, da sie, als in das Capitel
der Wortbildnngslchre gehörig, von keiner Grammatik umgangen werden kam:,
die er aber doch nur kurz und beiläufig behandelt: die Erscheinung, daß unsre
Sprache von Jahr zu Jahr mehr mit Neubildungen (sogenannten Neologismen)
überschwemmt wird. Ich meine nicht die zahllosen Neubildungen, die der Augen¬
blick schafft und wieder vernichtet, die der einzelne braucht, die ihm aber niemand
uachbrnucht, vielleicht er sich selber nicht, sondern lediglich solche, die sich verbreitet
haben. Ich habe nämlich die ketzerische Ansicht, daß die gegenwärtige Hä߬
lichkeit eines großen Theiles unsrer Schriftsprache, vor allem die Sprache unsrer
Tagespresse, nicht bloß auf die zunehmende Flüchtigkeit und Gleich giltigkeit in
grammatischen Dingen, sondern zum Theil auch auf die zahlreichen überflüssige",
obendrein oft falsch und geschmacklos gebildeten Neologismen zurückzuführen sei,
welche in unsre Schriftsprache eingedrungen sind.

Niemand wird so thöricht sein, ein neugebildetes Wort deshalb zu verwerfen,
weil es neu ist. Jedes Wort ist zu irgend einer Zeit einmal neu gewesen. Von
zahlreichen Wörtern, die uns jetzt so geläufig sind, daß wir sie uns gar nicht
mehr aus unsrer Sprache wegdenken tonnen, läßt sich nachweisen, wann und wie
sie ältern Ausdrücken an die Seite getreten sind, bis sie diese allmählich ganz
verdrängten.

Wer Lessingsche Prosa aufmerksam liest, dem begegnen auf jeder Seite
Wörter, die heute durch andre erfetzt sind, in den fünfziger und sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts aber uoch gäng und gäbe gewesen sein müssen. Fol¬
gende Beispiele sind sämmtlich aus dem "Laokoon" entnommen. Lessing schreibt
Denkungsart, Widerspiel, Augenpunkt, Schilderei, Gastgebot, wo
wir jetzt Anschauung (oder Gesinnung), Gegentheil, Gesichtspunkt, Ge¬
mälde, Einladung sagen- Bisweilen ist der Stamm des Wortes derselbe ge¬
blieben, aber die Wortbildung hat sich verändert; so lesen wir bei Lessing Ab-


Sprachliche Neubildungen.

der gesunden und kranken Sprache" nennen oder, nach Art von Rosenkranz'
„Aesthetik des Häßlichen," eine „Grammatik des Falschen." Ich wünschte, dies
Buch läge auf dem Arbeitstische jedes Schulmeisters, auf dem Redactionstische
jeder Zeitung. Jeder, auch der Sprachkundigste, kann daraus lernen, und wäre
es nur die beruhigende Bestätigung eigner Beobachtungen. Vor allem ist es
freilich für die Unsicher» bestimmt, die den guten Willen haben, rein und richtig
zu schreiben; durch ein praktisches Register ist dafür gesorgt, daß sie in jeden:
Zweifelsfalle die gewünschte Aufklärung rasch finden können.

Ich behalte mir vor, auf eiuzelue Capitel dieses verdienstvollen Buches ge¬
legentlich näher einzugehen und meine eignen Beobachtungen mit denen des Ver¬
fassers zu verbinden. Für diesmal möchte ich nur eine Erscheinung zur Sprache
bringen, die Autrefer wohl auch gelegentlich streift, da sie, als in das Capitel
der Wortbildnngslchre gehörig, von keiner Grammatik umgangen werden kam:,
die er aber doch nur kurz und beiläufig behandelt: die Erscheinung, daß unsre
Sprache von Jahr zu Jahr mehr mit Neubildungen (sogenannten Neologismen)
überschwemmt wird. Ich meine nicht die zahllosen Neubildungen, die der Augen¬
blick schafft und wieder vernichtet, die der einzelne braucht, die ihm aber niemand
uachbrnucht, vielleicht er sich selber nicht, sondern lediglich solche, die sich verbreitet
haben. Ich habe nämlich die ketzerische Ansicht, daß die gegenwärtige Hä߬
lichkeit eines großen Theiles unsrer Schriftsprache, vor allem die Sprache unsrer
Tagespresse, nicht bloß auf die zunehmende Flüchtigkeit und Gleich giltigkeit in
grammatischen Dingen, sondern zum Theil auch auf die zahlreichen überflüssige«,
obendrein oft falsch und geschmacklos gebildeten Neologismen zurückzuführen sei,
welche in unsre Schriftsprache eingedrungen sind.

Niemand wird so thöricht sein, ein neugebildetes Wort deshalb zu verwerfen,
weil es neu ist. Jedes Wort ist zu irgend einer Zeit einmal neu gewesen. Von
zahlreichen Wörtern, die uns jetzt so geläufig sind, daß wir sie uns gar nicht
mehr aus unsrer Sprache wegdenken tonnen, läßt sich nachweisen, wann und wie
sie ältern Ausdrücken an die Seite getreten sind, bis sie diese allmählich ganz
verdrängten.

Wer Lessingsche Prosa aufmerksam liest, dem begegnen auf jeder Seite
Wörter, die heute durch andre erfetzt sind, in den fünfziger und sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts aber uoch gäng und gäbe gewesen sein müssen. Fol¬
gende Beispiele sind sämmtlich aus dem „Laokoon" entnommen. Lessing schreibt
Denkungsart, Widerspiel, Augenpunkt, Schilderei, Gastgebot, wo
wir jetzt Anschauung (oder Gesinnung), Gegentheil, Gesichtspunkt, Ge¬
mälde, Einladung sagen- Bisweilen ist der Stamm des Wortes derselbe ge¬
blieben, aber die Wortbildung hat sich verändert; so lesen wir bei Lessing Ab-


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[0572] Sprachliche Neubildungen. der gesunden und kranken Sprache" nennen oder, nach Art von Rosenkranz' „Aesthetik des Häßlichen," eine „Grammatik des Falschen." Ich wünschte, dies Buch läge auf dem Arbeitstische jedes Schulmeisters, auf dem Redactionstische jeder Zeitung. Jeder, auch der Sprachkundigste, kann daraus lernen, und wäre es nur die beruhigende Bestätigung eigner Beobachtungen. Vor allem ist es freilich für die Unsicher» bestimmt, die den guten Willen haben, rein und richtig zu schreiben; durch ein praktisches Register ist dafür gesorgt, daß sie in jeden: Zweifelsfalle die gewünschte Aufklärung rasch finden können. Ich behalte mir vor, auf eiuzelue Capitel dieses verdienstvollen Buches ge¬ legentlich näher einzugehen und meine eignen Beobachtungen mit denen des Ver¬ fassers zu verbinden. Für diesmal möchte ich nur eine Erscheinung zur Sprache bringen, die Autrefer wohl auch gelegentlich streift, da sie, als in das Capitel der Wortbildnngslchre gehörig, von keiner Grammatik umgangen werden kam:, die er aber doch nur kurz und beiläufig behandelt: die Erscheinung, daß unsre Sprache von Jahr zu Jahr mehr mit Neubildungen (sogenannten Neologismen) überschwemmt wird. Ich meine nicht die zahllosen Neubildungen, die der Augen¬ blick schafft und wieder vernichtet, die der einzelne braucht, die ihm aber niemand uachbrnucht, vielleicht er sich selber nicht, sondern lediglich solche, die sich verbreitet haben. Ich habe nämlich die ketzerische Ansicht, daß die gegenwärtige Hä߬ lichkeit eines großen Theiles unsrer Schriftsprache, vor allem die Sprache unsrer Tagespresse, nicht bloß auf die zunehmende Flüchtigkeit und Gleich giltigkeit in grammatischen Dingen, sondern zum Theil auch auf die zahlreichen überflüssige«, obendrein oft falsch und geschmacklos gebildeten Neologismen zurückzuführen sei, welche in unsre Schriftsprache eingedrungen sind. Niemand wird so thöricht sein, ein neugebildetes Wort deshalb zu verwerfen, weil es neu ist. Jedes Wort ist zu irgend einer Zeit einmal neu gewesen. Von zahlreichen Wörtern, die uns jetzt so geläufig sind, daß wir sie uns gar nicht mehr aus unsrer Sprache wegdenken tonnen, läßt sich nachweisen, wann und wie sie ältern Ausdrücken an die Seite getreten sind, bis sie diese allmählich ganz verdrängten. Wer Lessingsche Prosa aufmerksam liest, dem begegnen auf jeder Seite Wörter, die heute durch andre erfetzt sind, in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aber uoch gäng und gäbe gewesen sein müssen. Fol¬ gende Beispiele sind sämmtlich aus dem „Laokoon" entnommen. Lessing schreibt Denkungsart, Widerspiel, Augenpunkt, Schilderei, Gastgebot, wo wir jetzt Anschauung (oder Gesinnung), Gegentheil, Gesichtspunkt, Ge¬ mälde, Einladung sagen- Bisweilen ist der Stamm des Wortes derselbe ge¬ blieben, aber die Wortbildung hat sich verändert; so lesen wir bei Lessing Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/572>, abgerufen am 14.05.2024.