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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Goethe und Gnstchen Stolberg.

Schwester von denen vortreflichen Grafen, mit welchen Ihr Herr Bruder ge¬
reist ist, geschenkt hat, und mit der ich verwandt bin durch meinen Grafen. O
meine Friderike, das ist ein Frauenzimmer, das Sie kennen sollten! In unsern:
Stande hab ich, ausser Ihnen und unsrer Emilie, noch kein Frauenzimmer kennen
gelernt, das soviel wahres, unverdorbenes Gefühl, ein so ofnes Herz für
alles Wahre und Gute, es mag seyn und herkommen, wo es will, besässe, das
so ganz frey von Vorurtheilen aller Art, und besonders des Standes, wäre.
Wir kannten uns im ersten Augenblick, und vfneten einander unser Herz. Wir
steckten fast immer beysammen, und ich hätte gern alle Hamburgische Ergötzlich¬
keiten hingegeben um den Umgang mit dieser wahrhaftig edeln Seele. O wie be¬
wunderte ich ihre Festigkeit, ihre starke, männliche Denkungsart bey so viel weib¬
lichem Reiz und so zarter Empfindung. Wie ungern trennte ich mich von meinem
Gustchen (so heißt sie). Wir weinten Beyde bey dem Abschiedskuß. Ich wäre
noch untröstlicher gewesen über den so frühen Verlust eines so theuren und
so kurz genossenen Gutes, wenn sie mir nicht versprochen hätte, mich auf künf¬
tigen Frühling gewiß in Otterböck zu besuchen. Sie ist Stiftsdame in Uetter-
sen, das nur eine Tagreise von hier liegt."

Das zweite Zeugniß führt uns direct zu unserm Stoffe: es macht uns
mit der Leidenschaft Gustchens, Briefe zu schreiben, bekannt. Die Briefschreib¬
seligkeit war freilich ein charakteristischer Zug der ganzen Sturm- und Drang¬
zeit. Man schickte sich gegenseitig lange, tagebuchartige Aufzeichnungen, Briefe,
an denen der Absender bisweilen wochenlang Tag für Tag ein paar Zeilen
geschrieben, und die der Empfänger dann wiederum wochenlang im Kreise der
Freunde von Hand zu Hand gehen ließ. Doch gab es auch solche, die in ganz
besonderem Maße mit dieser Leidenschaft behaftet waren, und wiederum andere,
die sich frei davon hielten und darüber spotteten. Zu den erster" gehörte
Auguste Stolberg, zu den letztern Klopstock. In dem Buche von C. F. Cra-
mer: "Klopstock, in Fragmenten aus Briefen von Teltow an Elisa" (Hamburg,
1777) wird geschildert, wie die Materie des Briefschreibens eine der gewöhn¬
lichsten des Klopstockscher Spottes sei, und wie besonders die Stolberge öfter
deshalb herhalten müßten. "Das Briefschreiben ist der ganzen Familie wie
angebohren, besonders aber dem ältesten, und Augusta. Feder und Dinte! ist
das erste, wornach der ruft, so bald er in ein Wirthshaus tritt. Zuhause, auf
Reisen, wo es auch sey! Schreib ihnen, und du hast den ersten Posttag Ant¬
wort. Augusta - von Morgen bis in Abend laufen die Depeschen bey ihr
ein, wie bey einem Staatsminister und werden sorgfältiger abgefertigt, als in
einer Canzelley. Letzthin allegorisirten wir darüber. Wo ist nun die Gräfinn
wieder? fragte Klopstock. -- Oben. Schreibt Briefe. -- Das ist wahr! Die
Stolbergs! Sie liegen am Briefschreiben recht krank darnieder. -- Freylich, sagt


Goethe und Gnstchen Stolberg.

Schwester von denen vortreflichen Grafen, mit welchen Ihr Herr Bruder ge¬
reist ist, geschenkt hat, und mit der ich verwandt bin durch meinen Grafen. O
meine Friderike, das ist ein Frauenzimmer, das Sie kennen sollten! In unsern:
Stande hab ich, ausser Ihnen und unsrer Emilie, noch kein Frauenzimmer kennen
gelernt, das soviel wahres, unverdorbenes Gefühl, ein so ofnes Herz für
alles Wahre und Gute, es mag seyn und herkommen, wo es will, besässe, das
so ganz frey von Vorurtheilen aller Art, und besonders des Standes, wäre.
Wir kannten uns im ersten Augenblick, und vfneten einander unser Herz. Wir
steckten fast immer beysammen, und ich hätte gern alle Hamburgische Ergötzlich¬
keiten hingegeben um den Umgang mit dieser wahrhaftig edeln Seele. O wie be¬
wunderte ich ihre Festigkeit, ihre starke, männliche Denkungsart bey so viel weib¬
lichem Reiz und so zarter Empfindung. Wie ungern trennte ich mich von meinem
Gustchen (so heißt sie). Wir weinten Beyde bey dem Abschiedskuß. Ich wäre
noch untröstlicher gewesen über den so frühen Verlust eines so theuren und
so kurz genossenen Gutes, wenn sie mir nicht versprochen hätte, mich auf künf¬
tigen Frühling gewiß in Otterböck zu besuchen. Sie ist Stiftsdame in Uetter-
sen, das nur eine Tagreise von hier liegt."

Das zweite Zeugniß führt uns direct zu unserm Stoffe: es macht uns
mit der Leidenschaft Gustchens, Briefe zu schreiben, bekannt. Die Briefschreib¬
seligkeit war freilich ein charakteristischer Zug der ganzen Sturm- und Drang¬
zeit. Man schickte sich gegenseitig lange, tagebuchartige Aufzeichnungen, Briefe,
an denen der Absender bisweilen wochenlang Tag für Tag ein paar Zeilen
geschrieben, und die der Empfänger dann wiederum wochenlang im Kreise der
Freunde von Hand zu Hand gehen ließ. Doch gab es auch solche, die in ganz
besonderem Maße mit dieser Leidenschaft behaftet waren, und wiederum andere,
die sich frei davon hielten und darüber spotteten. Zu den erster« gehörte
Auguste Stolberg, zu den letztern Klopstock. In dem Buche von C. F. Cra-
mer: „Klopstock, in Fragmenten aus Briefen von Teltow an Elisa" (Hamburg,
1777) wird geschildert, wie die Materie des Briefschreibens eine der gewöhn¬
lichsten des Klopstockscher Spottes sei, und wie besonders die Stolberge öfter
deshalb herhalten müßten. „Das Briefschreiben ist der ganzen Familie wie
angebohren, besonders aber dem ältesten, und Augusta. Feder und Dinte! ist
das erste, wornach der ruft, so bald er in ein Wirthshaus tritt. Zuhause, auf
Reisen, wo es auch sey! Schreib ihnen, und du hast den ersten Posttag Ant¬
wort. Augusta - von Morgen bis in Abend laufen die Depeschen bey ihr
ein, wie bey einem Staatsminister und werden sorgfältiger abgefertigt, als in
einer Canzelley. Letzthin allegorisirten wir darüber. Wo ist nun die Gräfinn
wieder? fragte Klopstock. — Oben. Schreibt Briefe. — Das ist wahr! Die
Stolbergs! Sie liegen am Briefschreiben recht krank darnieder. — Freylich, sagt


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[0079] Goethe und Gnstchen Stolberg. Schwester von denen vortreflichen Grafen, mit welchen Ihr Herr Bruder ge¬ reist ist, geschenkt hat, und mit der ich verwandt bin durch meinen Grafen. O meine Friderike, das ist ein Frauenzimmer, das Sie kennen sollten! In unsern: Stande hab ich, ausser Ihnen und unsrer Emilie, noch kein Frauenzimmer kennen gelernt, das soviel wahres, unverdorbenes Gefühl, ein so ofnes Herz für alles Wahre und Gute, es mag seyn und herkommen, wo es will, besässe, das so ganz frey von Vorurtheilen aller Art, und besonders des Standes, wäre. Wir kannten uns im ersten Augenblick, und vfneten einander unser Herz. Wir steckten fast immer beysammen, und ich hätte gern alle Hamburgische Ergötzlich¬ keiten hingegeben um den Umgang mit dieser wahrhaftig edeln Seele. O wie be¬ wunderte ich ihre Festigkeit, ihre starke, männliche Denkungsart bey so viel weib¬ lichem Reiz und so zarter Empfindung. Wie ungern trennte ich mich von meinem Gustchen (so heißt sie). Wir weinten Beyde bey dem Abschiedskuß. Ich wäre noch untröstlicher gewesen über den so frühen Verlust eines so theuren und so kurz genossenen Gutes, wenn sie mir nicht versprochen hätte, mich auf künf¬ tigen Frühling gewiß in Otterböck zu besuchen. Sie ist Stiftsdame in Uetter- sen, das nur eine Tagreise von hier liegt." Das zweite Zeugniß führt uns direct zu unserm Stoffe: es macht uns mit der Leidenschaft Gustchens, Briefe zu schreiben, bekannt. Die Briefschreib¬ seligkeit war freilich ein charakteristischer Zug der ganzen Sturm- und Drang¬ zeit. Man schickte sich gegenseitig lange, tagebuchartige Aufzeichnungen, Briefe, an denen der Absender bisweilen wochenlang Tag für Tag ein paar Zeilen geschrieben, und die der Empfänger dann wiederum wochenlang im Kreise der Freunde von Hand zu Hand gehen ließ. Doch gab es auch solche, die in ganz besonderem Maße mit dieser Leidenschaft behaftet waren, und wiederum andere, die sich frei davon hielten und darüber spotteten. Zu den erster« gehörte Auguste Stolberg, zu den letztern Klopstock. In dem Buche von C. F. Cra- mer: „Klopstock, in Fragmenten aus Briefen von Teltow an Elisa" (Hamburg, 1777) wird geschildert, wie die Materie des Briefschreibens eine der gewöhn¬ lichsten des Klopstockscher Spottes sei, und wie besonders die Stolberge öfter deshalb herhalten müßten. „Das Briefschreiben ist der ganzen Familie wie angebohren, besonders aber dem ältesten, und Augusta. Feder und Dinte! ist das erste, wornach der ruft, so bald er in ein Wirthshaus tritt. Zuhause, auf Reisen, wo es auch sey! Schreib ihnen, und du hast den ersten Posttag Ant¬ wort. Augusta - von Morgen bis in Abend laufen die Depeschen bey ihr ein, wie bey einem Staatsminister und werden sorgfältiger abgefertigt, als in einer Canzelley. Letzthin allegorisirten wir darüber. Wo ist nun die Gräfinn wieder? fragte Klopstock. — Oben. Schreibt Briefe. — Das ist wahr! Die Stolbergs! Sie liegen am Briefschreiben recht krank darnieder. — Freylich, sagt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/79>, abgerufen am 01.11.2024.