Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethe und Gustchen Stolberg.

klugen, Beck, 1879) das Verhältniß Goethes zu Lili so eingehend dargestellt und
dabei seine Briefe an Auguste Stolberg nach dieser Seite hin so erschöpfend
benutzt, daß wir hier nicht darauf zurückzukommen brauchen.

Vollständig jedoch erklärt sich nach unserer Meinung der Charakter dieser
Briefe nicht aus dem Verhältniß zu Lili. Zum Theil ist er sicherlich auch
aus die ganze seltsame Art zurückzuführen, in welcher der briefliche Verkehr mit
Auguste eingefädelt und fortgesponnen wurde. Man hat es immer als be¬
sonders merkwürdig bezeichnet, daß die beiden Correspondenten einander nie im
Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber das ist so wunderbar nicht.
Wenn zwei Leute durch reale Interessen mit einander verbunden sind, wenn
sie einander positive sachliche Mittheilungen zu macheu haben, warum sollten sie
nicht jahrelang in einem fruchtbaren Briefwechsel mit einander stehen können,
ohne einander zu sehen? Dergleichen kommt im wissenschaftlichen, im kauf¬
männischen Leben täglich vor. Viel seltsamer ist es, daß Goethe hier nolsus
volens in einen Briefwechsel mit einem Mädchen hineingezogen wurde, die aus
der Ferne für ihn und seine Dichtungen schwärmte, der er aber doch eigentlich
nichts zu schreiben hatte. Wäre dem Briefwechsel eine persönliche Begegnung
vorausgegangen, als dessen ungezwungene Fortsetzung er hätte gelten können,
die Briefe würden gewiß noch ein anderes Gesicht zeigen. So wie sie sind, haben
sie etwas unnatürlich forcirtes und zeigen neben andern Qualen auch Spuren
der Selbstquälerei, die sie Goethe gekostet haben.

Abgesehen von den auf Lili bezüglichen Herzensergüssen und abgesehen,
allerdings von einigen sogleich noch zu erwähnenden Stellen, die sich auf die
ganze damalige Entfaltung Goethes beziehen oder auf seine dichterischen Arbeiten
hindeuten -- was enthalten die Briefe? Gleich im zweiten schreibt er: "Das
sag ich Ihnen voraus, daß ich Sie offt mit viel Kleinigkeiten unterhalten werde,
wie mirs in Sinn schießt." Zwischen dem dritten und vierten hatte Auguste
wohl ein Billet ihres Freundes des Gymnasialrectors Ehlers in Altona beige¬
legt; darauf entschuldigt sich Goethe im vierten Briefe, daß er an Ehlers nicht
wieder schreibe: "Ich habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen
kriegt mich doch wieder dran." Schließlich schlägt er im achten Briefe vom
14. September Gustchen vor: "Will dir so ein Tagbuch schreiben, ist das beste.
Thu mir's auch so ich hasse die Briefe und die Erörterungen und Meynungen."
Dem entspricht denn auch der Inhalt. Die gleichgiltigsten Dinge werden zu
Papiere gebracht: er schildert seine aller Augenblicke wechselnde Stimmung und
seine fortwährend umspringenden Entschlüsse, skizzirt die Situation, in der
er sich gerade befindet, bis herab auf die äußere Beschaffenheit des Zimmers,
in dem er sitzt, schreibt aller drei, vier Zeilen, was die Uhr zeigt, wünscht
guten Morgen, gesegnete Mahlzeit, guten Abend, gute Nacht, und was der-


Goethe und Gustchen Stolberg.

klugen, Beck, 1879) das Verhältniß Goethes zu Lili so eingehend dargestellt und
dabei seine Briefe an Auguste Stolberg nach dieser Seite hin so erschöpfend
benutzt, daß wir hier nicht darauf zurückzukommen brauchen.

Vollständig jedoch erklärt sich nach unserer Meinung der Charakter dieser
Briefe nicht aus dem Verhältniß zu Lili. Zum Theil ist er sicherlich auch
aus die ganze seltsame Art zurückzuführen, in welcher der briefliche Verkehr mit
Auguste eingefädelt und fortgesponnen wurde. Man hat es immer als be¬
sonders merkwürdig bezeichnet, daß die beiden Correspondenten einander nie im
Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber das ist so wunderbar nicht.
Wenn zwei Leute durch reale Interessen mit einander verbunden sind, wenn
sie einander positive sachliche Mittheilungen zu macheu haben, warum sollten sie
nicht jahrelang in einem fruchtbaren Briefwechsel mit einander stehen können,
ohne einander zu sehen? Dergleichen kommt im wissenschaftlichen, im kauf¬
männischen Leben täglich vor. Viel seltsamer ist es, daß Goethe hier nolsus
volens in einen Briefwechsel mit einem Mädchen hineingezogen wurde, die aus
der Ferne für ihn und seine Dichtungen schwärmte, der er aber doch eigentlich
nichts zu schreiben hatte. Wäre dem Briefwechsel eine persönliche Begegnung
vorausgegangen, als dessen ungezwungene Fortsetzung er hätte gelten können,
die Briefe würden gewiß noch ein anderes Gesicht zeigen. So wie sie sind, haben
sie etwas unnatürlich forcirtes und zeigen neben andern Qualen auch Spuren
der Selbstquälerei, die sie Goethe gekostet haben.

Abgesehen von den auf Lili bezüglichen Herzensergüssen und abgesehen,
allerdings von einigen sogleich noch zu erwähnenden Stellen, die sich auf die
ganze damalige Entfaltung Goethes beziehen oder auf seine dichterischen Arbeiten
hindeuten — was enthalten die Briefe? Gleich im zweiten schreibt er: „Das
sag ich Ihnen voraus, daß ich Sie offt mit viel Kleinigkeiten unterhalten werde,
wie mirs in Sinn schießt." Zwischen dem dritten und vierten hatte Auguste
wohl ein Billet ihres Freundes des Gymnasialrectors Ehlers in Altona beige¬
legt; darauf entschuldigt sich Goethe im vierten Briefe, daß er an Ehlers nicht
wieder schreibe: „Ich habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen
kriegt mich doch wieder dran." Schließlich schlägt er im achten Briefe vom
14. September Gustchen vor: „Will dir so ein Tagbuch schreiben, ist das beste.
Thu mir's auch so ich hasse die Briefe und die Erörterungen und Meynungen."
Dem entspricht denn auch der Inhalt. Die gleichgiltigsten Dinge werden zu
Papiere gebracht: er schildert seine aller Augenblicke wechselnde Stimmung und
seine fortwährend umspringenden Entschlüsse, skizzirt die Situation, in der
er sich gerade befindet, bis herab auf die äußere Beschaffenheit des Zimmers,
in dem er sitzt, schreibt aller drei, vier Zeilen, was die Uhr zeigt, wünscht
guten Morgen, gesegnete Mahlzeit, guten Abend, gute Nacht, und was der-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0082" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149066"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethe und Gustchen Stolberg.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_196" prev="#ID_195"> klugen, Beck, 1879) das Verhältniß Goethes zu Lili so eingehend dargestellt und<lb/>
dabei seine Briefe an Auguste Stolberg nach dieser Seite hin so erschöpfend<lb/>
benutzt, daß wir hier nicht darauf zurückzukommen brauchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197"> Vollständig jedoch erklärt sich nach unserer Meinung der Charakter dieser<lb/>
Briefe nicht aus dem Verhältniß zu Lili. Zum Theil ist er sicherlich auch<lb/>
aus die ganze seltsame Art zurückzuführen, in welcher der briefliche Verkehr mit<lb/>
Auguste eingefädelt und fortgesponnen wurde. Man hat es immer als be¬<lb/>
sonders merkwürdig bezeichnet, daß die beiden Correspondenten einander nie im<lb/>
Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber das ist so wunderbar nicht.<lb/>
Wenn zwei Leute durch reale Interessen mit einander verbunden sind, wenn<lb/>
sie einander positive sachliche Mittheilungen zu macheu haben, warum sollten sie<lb/>
nicht jahrelang in einem fruchtbaren Briefwechsel mit einander stehen können,<lb/>
ohne einander zu sehen? Dergleichen kommt im wissenschaftlichen, im kauf¬<lb/>
männischen Leben täglich vor. Viel seltsamer ist es, daß Goethe hier nolsus<lb/>
volens in einen Briefwechsel mit einem Mädchen hineingezogen wurde, die aus<lb/>
der Ferne für ihn und seine Dichtungen schwärmte, der er aber doch eigentlich<lb/>
nichts zu schreiben hatte. Wäre dem Briefwechsel eine persönliche Begegnung<lb/>
vorausgegangen, als dessen ungezwungene Fortsetzung er hätte gelten können,<lb/>
die Briefe würden gewiß noch ein anderes Gesicht zeigen. So wie sie sind, haben<lb/>
sie etwas unnatürlich forcirtes und zeigen neben andern Qualen auch Spuren<lb/>
der Selbstquälerei, die sie Goethe gekostet haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_198" next="#ID_199"> Abgesehen von den auf Lili bezüglichen Herzensergüssen und abgesehen,<lb/>
allerdings von einigen sogleich noch zu erwähnenden Stellen, die sich auf die<lb/>
ganze damalige Entfaltung Goethes beziehen oder auf seine dichterischen Arbeiten<lb/>
hindeuten &#x2014; was enthalten die Briefe? Gleich im zweiten schreibt er: &#x201E;Das<lb/>
sag ich Ihnen voraus, daß ich Sie offt mit viel Kleinigkeiten unterhalten werde,<lb/>
wie mirs in Sinn schießt." Zwischen dem dritten und vierten hatte Auguste<lb/>
wohl ein Billet ihres Freundes des Gymnasialrectors Ehlers in Altona beige¬<lb/>
legt; darauf entschuldigt sich Goethe im vierten Briefe, daß er an Ehlers nicht<lb/>
wieder schreibe: &#x201E;Ich habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen<lb/>
kriegt mich doch wieder dran." Schließlich schlägt er im achten Briefe vom<lb/>
14. September Gustchen vor: &#x201E;Will dir so ein Tagbuch schreiben, ist das beste.<lb/>
Thu mir's auch so ich hasse die Briefe und die Erörterungen und Meynungen."<lb/>
Dem entspricht denn auch der Inhalt. Die gleichgiltigsten Dinge werden zu<lb/>
Papiere gebracht: er schildert seine aller Augenblicke wechselnde Stimmung und<lb/>
seine fortwährend umspringenden Entschlüsse, skizzirt die Situation, in der<lb/>
er sich gerade befindet, bis herab auf die äußere Beschaffenheit des Zimmers,<lb/>
in dem er sitzt, schreibt aller drei, vier Zeilen, was die Uhr zeigt, wünscht<lb/>
guten Morgen, gesegnete Mahlzeit, guten Abend, gute Nacht, und was der-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0082] Goethe und Gustchen Stolberg. klugen, Beck, 1879) das Verhältniß Goethes zu Lili so eingehend dargestellt und dabei seine Briefe an Auguste Stolberg nach dieser Seite hin so erschöpfend benutzt, daß wir hier nicht darauf zurückzukommen brauchen. Vollständig jedoch erklärt sich nach unserer Meinung der Charakter dieser Briefe nicht aus dem Verhältniß zu Lili. Zum Theil ist er sicherlich auch aus die ganze seltsame Art zurückzuführen, in welcher der briefliche Verkehr mit Auguste eingefädelt und fortgesponnen wurde. Man hat es immer als be¬ sonders merkwürdig bezeichnet, daß die beiden Correspondenten einander nie im Leben von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber das ist so wunderbar nicht. Wenn zwei Leute durch reale Interessen mit einander verbunden sind, wenn sie einander positive sachliche Mittheilungen zu macheu haben, warum sollten sie nicht jahrelang in einem fruchtbaren Briefwechsel mit einander stehen können, ohne einander zu sehen? Dergleichen kommt im wissenschaftlichen, im kauf¬ männischen Leben täglich vor. Viel seltsamer ist es, daß Goethe hier nolsus volens in einen Briefwechsel mit einem Mädchen hineingezogen wurde, die aus der Ferne für ihn und seine Dichtungen schwärmte, der er aber doch eigentlich nichts zu schreiben hatte. Wäre dem Briefwechsel eine persönliche Begegnung vorausgegangen, als dessen ungezwungene Fortsetzung er hätte gelten können, die Briefe würden gewiß noch ein anderes Gesicht zeigen. So wie sie sind, haben sie etwas unnatürlich forcirtes und zeigen neben andern Qualen auch Spuren der Selbstquälerei, die sie Goethe gekostet haben. Abgesehen von den auf Lili bezüglichen Herzensergüssen und abgesehen, allerdings von einigen sogleich noch zu erwähnenden Stellen, die sich auf die ganze damalige Entfaltung Goethes beziehen oder auf seine dichterischen Arbeiten hindeuten — was enthalten die Briefe? Gleich im zweiten schreibt er: „Das sag ich Ihnen voraus, daß ich Sie offt mit viel Kleinigkeiten unterhalten werde, wie mirs in Sinn schießt." Zwischen dem dritten und vierten hatte Auguste wohl ein Billet ihres Freundes des Gymnasialrectors Ehlers in Altona beige¬ legt; darauf entschuldigt sich Goethe im vierten Briefe, daß er an Ehlers nicht wieder schreibe: „Ich habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen kriegt mich doch wieder dran." Schließlich schlägt er im achten Briefe vom 14. September Gustchen vor: „Will dir so ein Tagbuch schreiben, ist das beste. Thu mir's auch so ich hasse die Briefe und die Erörterungen und Meynungen." Dem entspricht denn auch der Inhalt. Die gleichgiltigsten Dinge werden zu Papiere gebracht: er schildert seine aller Augenblicke wechselnde Stimmung und seine fortwährend umspringenden Entschlüsse, skizzirt die Situation, in der er sich gerade befindet, bis herab auf die äußere Beschaffenheit des Zimmers, in dem er sitzt, schreibt aller drei, vier Zeilen, was die Uhr zeigt, wünscht guten Morgen, gesegnete Mahlzeit, guten Abend, gute Nacht, und was der-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/82
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/82>, abgerufen am 05.06.2024.