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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Gambottci und das Listenscrutinimn.

eiuflusseu werden als bisher, daß ein gleiches von dem Einflüsse von Paris
auf die Departements gilt, und daß Paris wieder in dieser wie in vielen andern
Beziehungen die Directive aus dem Palais Bourbon erhalten wird; ferner, daß
der Präsident und ein Theil seines Cabinets von dein Listenscrntinium nichts gutes
erwarteten, die Regierung es aber für gerathen hielt, der Sache gegenüber neutral
aufzutreten und so die Verantwortlichkeit für die Entscheidung den gesetzgebenden
Körperschaften zuzuschieben; endlich, daß der von neuem eingeführte Wahlmodus
sich in der Vergangenheit wirklich nicht glückbringend sür Frankreich gezeigt hat.

Werfen wir einen Rückblick auf die Wahlsysteme, die seit 1789 in Frank¬
reich geherrscht haben. Die Wahlen, aus denen die berühmten Generalstaaten
jenes Jahres hervorgingen, erfolgten weder nach dem einen noch nach dem andern
der beiden oben charakterisirten Systeme. Für die Bevölkerung des damaligen
Frankreichs gab es 170 Wahlkörper, und würde dasselbe Prineip jetzt zur An¬
wendung gebracht, so würde es 340 Wahlkörper oder Wählerschaften geben,
was sich dem seither gebräuchlichen Modus (svrutiu ä'M'onäisssmsut) mehr nähert
als dem neuen Systeme (hornen Ah lists); denn nach jenem zerfällt die Ge-
sammtwühlerschaft Frankreichs in etwas mehr als vierhundert, nach diesem nur
in siebenundachtzig Wcchldistricte. Wenn der Abgeordnete Boysset, der Haupt¬
redner gegen den Bardvuxschen Antrag, dies hervorhob, so lag die Kraft seines
Vergleiches in dem Aberglauben, der jede Bezugnahme auf die "geheiligten Grund¬
sätze von 1789" mit einem Glorienscheine umgiebt; ein Wahlsystem, aus welchem
die große Revolution entsprang, kann vor Republiccmern immer mit einiger
oratorischer Wirkung vertheidigt werden. Die Constitution von 1791, die auf
einer theils territorialen, theils numerischen, theils fiscalischen Grundlage be¬
ruhte und Deputirte schuf, welche von Wahlmännern gewählt waren, die ihrer¬
seits Wählern ihr Mandat verdankten, kann hier außer Betracht bleiben. Der
Convent deeretirte die Wahl einzelner Mitglieder durch kleine Wahlkörper. Im
Jahre III kehrte man zum Listenscrutinium zurück, und nach einigen unwesent¬
lichen Veränderungen des Wahlmodus ging das ganze parlamentarische System
in Frankreich durch den 18. Brumaire zu Grunde. Im Jahre 1815 erschien
es wieder auf der Bildfläche, aber stark beschnitten und eingeschränkt, denn es
gab jetzt nur noch eine Viertelmillion Wahlberechtigte in ganz Frankreich. Mit
geringen Umgestaltungen erhielt es sich unter Ludwig Philipp. Das 1848
adoptirte Listenscrutininm ergab als Resultat eine Volksvertretung, welche eine
unpraktische Verfassung schuf, 1849 das allgemeine Stimmrecht verstümmelte
und 1871 nahe daran war, dem "König" mit der weißen Fahne wieder auf
den Thron zu verhelfen. Die Wahl nach Arrondissements dagegen hat zweimal
hintereinander überwiegend republieanisch gesinnte Kammern ergeben. Also zeigte


Gambottci und das Listenscrutinimn.

eiuflusseu werden als bisher, daß ein gleiches von dem Einflüsse von Paris
auf die Departements gilt, und daß Paris wieder in dieser wie in vielen andern
Beziehungen die Directive aus dem Palais Bourbon erhalten wird; ferner, daß
der Präsident und ein Theil seines Cabinets von dein Listenscrntinium nichts gutes
erwarteten, die Regierung es aber für gerathen hielt, der Sache gegenüber neutral
aufzutreten und so die Verantwortlichkeit für die Entscheidung den gesetzgebenden
Körperschaften zuzuschieben; endlich, daß der von neuem eingeführte Wahlmodus
sich in der Vergangenheit wirklich nicht glückbringend sür Frankreich gezeigt hat.

Werfen wir einen Rückblick auf die Wahlsysteme, die seit 1789 in Frank¬
reich geherrscht haben. Die Wahlen, aus denen die berühmten Generalstaaten
jenes Jahres hervorgingen, erfolgten weder nach dem einen noch nach dem andern
der beiden oben charakterisirten Systeme. Für die Bevölkerung des damaligen
Frankreichs gab es 170 Wahlkörper, und würde dasselbe Prineip jetzt zur An¬
wendung gebracht, so würde es 340 Wahlkörper oder Wählerschaften geben,
was sich dem seither gebräuchlichen Modus (svrutiu ä'M'onäisssmsut) mehr nähert
als dem neuen Systeme (hornen Ah lists); denn nach jenem zerfällt die Ge-
sammtwühlerschaft Frankreichs in etwas mehr als vierhundert, nach diesem nur
in siebenundachtzig Wcchldistricte. Wenn der Abgeordnete Boysset, der Haupt¬
redner gegen den Bardvuxschen Antrag, dies hervorhob, so lag die Kraft seines
Vergleiches in dem Aberglauben, der jede Bezugnahme auf die „geheiligten Grund¬
sätze von 1789" mit einem Glorienscheine umgiebt; ein Wahlsystem, aus welchem
die große Revolution entsprang, kann vor Republiccmern immer mit einiger
oratorischer Wirkung vertheidigt werden. Die Constitution von 1791, die auf
einer theils territorialen, theils numerischen, theils fiscalischen Grundlage be¬
ruhte und Deputirte schuf, welche von Wahlmännern gewählt waren, die ihrer¬
seits Wählern ihr Mandat verdankten, kann hier außer Betracht bleiben. Der
Convent deeretirte die Wahl einzelner Mitglieder durch kleine Wahlkörper. Im
Jahre III kehrte man zum Listenscrutinium zurück, und nach einigen unwesent¬
lichen Veränderungen des Wahlmodus ging das ganze parlamentarische System
in Frankreich durch den 18. Brumaire zu Grunde. Im Jahre 1815 erschien
es wieder auf der Bildfläche, aber stark beschnitten und eingeschränkt, denn es
gab jetzt nur noch eine Viertelmillion Wahlberechtigte in ganz Frankreich. Mit
geringen Umgestaltungen erhielt es sich unter Ludwig Philipp. Das 1848
adoptirte Listenscrutininm ergab als Resultat eine Volksvertretung, welche eine
unpraktische Verfassung schuf, 1849 das allgemeine Stimmrecht verstümmelte
und 1871 nahe daran war, dem „König" mit der weißen Fahne wieder auf
den Thron zu verhelfen. Die Wahl nach Arrondissements dagegen hat zweimal
hintereinander überwiegend republieanisch gesinnte Kammern ergeben. Also zeigte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/383>, abgerufen am 27.05.2024.